Unheilvoll und gespenstisch, diese unsere Zeit

Die Idee zu Ödön von Horváths Ein Kind unserer Zeit im Schatten des Angriffskrieges gegen die Ukraine

Der Beginn des neuen Jahres stand ganz im Zeichen der Arbeit an meiner neuen Lesefassung von Stefan Zweigs Die Welt von Gestern, kündigten sich doch für das Frühjahr erste Auftritte an, die in Erinnerung an seinen Todestag vor 80 Jahren stattfinden sollten. Gleichzeitig erhielt ich in den ersten Januartagen die Einladung, am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz (Erzgebirge) eine Regie zu übernehmen. Zunächst war ein Werk des israelischen Autors Daniel Grossmann im Gespräch, dessen Realisierung sich aber nicht verwirklichen ließ und wir uns schon bald auf die Suche nach einem neuen passenden Stoff machten.
So waren die ersten Wochen sehr ausgefüllt mit lesen, schreiben und konzipieren. Die arbeitsamen Tage standen unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Situation an der ukrainisch-russischen Grenze. Die Provokationen und Drohungen seitens des russischen Präsidenten gegenüber dem Nachbarstaat nahmen täglich an Schärfe zu, so dass man mit dem Schlimmsten rechnen musste. Anfang Februar ist von einem belarussisch-russischem Manöver im Grenzland zur Ukraine die Rede und die Bundesregierung ruft deutsche Staatsangehörige zur Ausreise aus der Ukraine auf. (12.2.) An der ukrainischen Grenze sollen sich bereits mehr als 130.000 russische Soldaten versammeln. „Vorerst sinds nur Manöver“, stellt der junge Soldat in Ödön von Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit lakonisch fest, den ich in meinem Regal stehend wiederentdecke. Ich lese mich fest und die Sätze, die von einer Desillusionierung einer ganzen Generation erzählen, beschäftigen mich zusehends und ich überlege, ob es sich nicht lohnen könnte, diesen Text „bis in die Tiefen der Gegenwart hinein zu hinterfragen.“
Das mörderische Geschehen war in den späten Februartagen nicht mehr aufzuhalten. Die Weltgemeinschaft stand Kopf: „Die einen wollen Frieden und die anderen keinen Krieg. So was erzeugt natürlich Spannungen“, so Stefan Zweig. Ein „großflächiger Schlag Russlands gegen die Ukraine wird nicht mehr ausgeschlossen.“ (20.2.)
Dieser Schlag erfolgte schlussendlich in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022. Bis zuletzt hatte die zivilisierte Menschheit gehofft, dass dieser Albtraum nicht Wirklichkeit werden möge. Es kam anders. Das Unvorstellbare geschah. In den darauffolgenden Tagen versuchte ich die sich überstürzenden Meldungen zu verfolgen, jedes noch so kleine Detail im Journal akribisch festzuhalten, um zu verstehen, was gerade in Europa passierte. Eine Collage aus gesammelten Nachrichtenmeldungen und Bildern; Textfragmente mit diffusen Gedanken und Empfindungen bestimmen die Einträge in diesen Wochen. Dazwischen reifte die Idee, aus dem horváthschen Roman Ein Kind unserer Zeit einen Monolog für einen Schauspieler zu konzipieren.

17. Oktober 2022


Aufzeichnungen aus dem Arbeitsjournal (I)

24. Februar 2022
Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Es ist Krieg in Europa. Aufwachen in einem Albtraum. Kurz nach vier Uhr am Morgen aus wirren Träumen aufgewacht. Äußerst unruhig geschlafen, immer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt. Kaum, dass ich Twitter öffnete, lese ich die ersten Schreckensmeldungen aus der Ukraine: P. hat den russischen Überfall auf die Ukraine befohlen! Das Ungeheuerliche ist wahr geworden. Eine unvorstellbare Angriffswelle erstreckt sich ab den frühen Morgenstunden über das ganze Land. Unverhohlen droht P. der Welt, sollte sich diese in die russische „Angelegenheit“ einmischen: „Der russische Staat kann nicht neben einer modernen Ukraine existieren.“ Seine größte Angst, dass sich das russische Volk mit der Demokratie „infiziert“ und sein diktatorisches System zu Fall kommt.
Was für eine menschgemachte Katastrophe.
Der Menschenmörder, der Herr über Leben und Tod, faselt in den frühen Morgenstunden der Invasion etwas von „Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine“, von „drogenabhängigen Kriminellen, die das Land regieren“ und trägt in einer unglaublichen Hassrede auf den Westen seine altbekannten, verschwörungsideologischen Lügen vor. Seine vorgebrachte Drohung mit dem „Schlimmsten“ lässt einen erschaudern. (…) Er, der von manch einem (Ex-Bundeskanzler Schröder) als „lupenreiner Demokrat“ betitelt wurde, ist nichts anderes als ein Faschist. Sein größer Feind ist die Demokratie und ein lebensbejahender, von Humanität und Freiheit geprägter, europäischer Gedanke. Wir werden Zeugen sein, wie sich in den nächsten Tagen und Wochen die Russische Föderation endgültig zu einer Diktatur entwickeln wird. Die jahrelang vollzogene Fütterung der Bevölkerung mit nationalideologischer Propaganda wird ihr Übriges tun. (…) Wie lächerlich war es ohnehin von einer „Autokratie“ zu sprechen! Wie gefährlich war es, mit diesem Tyrannen Geschäfte zu machen, Unsummen in dieses verbrecherische System zu pumpen und es dadurch erst zu ermöglichen. (…)
Der Tag beginnt in Schockstarre. An Arbeit ist nicht zu denken. Den ganzen Tag über verfolge ich am Handy oder direkt am PC die Nachrichtenlage, die sich minütlich aktualisiert. Wie ein Sog ziehen die Nachrichten einen hinein in einen Krieg, den wir uns hier im wohlstandsverwöhnten Mitteleuropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr haben vorstellen können. Welch einer Illusion haben wir uns hingegeben! (…) Von mehreren Seiten drängen die Verbände der russischen Armee in die Ukraine ein. Es ist unvorstellbar. Ich kann es nicht fassen, was passiert. (…) Schon sind Tausende auf der Flucht in Richtung der Grenzen nach Europa. Am Abend wird bekannt, dass russische Truppen die Sperrzone um die ukrainische Kernkraftruine von Tschernobyl eroberten. Man mag es sich nicht ausmalen, was der Verbrecher P. damit vor hat! (Für was braucht er da noch die Atombombe!)
Erschütternde Bilder und Szenen spielen sich auf den Bildschirmen unserer Smartphones ab. Aber es ist kein Spiel, es ist die blanke Realität. Jedoch erzählen die Szenen auch von einem unglaublich mutigen Volk. Ich sehe eine Videoaufnahme, auf der eine alte Frau in der Region Cherson einen russischen Soldaten zur Rede stellt. Was er hier in ihrem Land verloren hätte, er solle verschwinden. Und sie rät ihm, sich die Taschen mit Sonnenblumenkerne zu füllen, damit auf seinem Grab wenigstens Sonnenblumen wachsen. Die Gewaltspirale dreht sich weiter. Ein infamer Völkerrechtsbruch.

25. Februar 2022
Das Unfassbare nicht fassen können. Ich ringe nach Worten, um die Bilder aus der Ukraine, meine Gedanken und Gefühle beschreiben zu können. In der Nacht, wieder in den frühen Morgenstunden, setzt das russische Militär seine Angriffe auf die Ukraine fort. Offenbar stehen Verbände vor Kyiv. Raketen auf die Stadt. (…) Der ukrainische Präsident Selenskyj rechnet mit seiner Ermordung, sollte er russischen Soldaten in die Hände fallen. Fällt heute die Hauptstadt der Ukraine? (…) In einem emotionalen Appell ruft das ukrainische Verteidigungsministerium die Bevölkerung dazu auf, überall russische Militärfahrzeuge zu blockieren. „Kommt mit ukrainischen Flaggen auf die Straßen, filmt die russischen Besatzer. Zeigt ihnen, dass sie hier nicht erwünscht sind, dass ihnen jeder Widerstand leisten wird.“ Molotow-Cocktails werden gebaut, um sich den Angreifern erwehren zu können. Es wird die allgemeine Mobilmachung angeordnet. (…) P. forderte seinerseits die Ukrainer zum Staatsstreich gegen die Regierung von Präsident Selenskyj auf, die er als eine Band von „Drogensüchtigen, Neonazis und Terroristen“ bezeichnete. (…) Die grausamsten Widergänger der vergangenen Jahrhunderte, die wir, so dachte zumindest der zivilisierte Mensch im 21. Jahrhundert, endgültig für überwunden glaubten, sind aus ihren Verstecken gekrochen und haben ihre demagogischen Masken fallen lassen.

26. Februar 2022
Unfähig irgendetwas zu arbeiten. Wie gelähmt. Total übermüdet. Die Nacht keine Stunde geschlafen. Albträume. Unaufhörlich, gefühlt minütlich, gibt es neue Meldungen aus der Ukraine. Das Land hat das Kriegsrecht ausgerufen. Alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren werden an den Grenzen zurückgewiesen. Welch verstörende und verzweifelte Szenen müssen sich dort abspielen. (…) Wir beginnen nur langsam zu begreifen, was gerade in Europa passiert. Es ist Krieg. (…) Die sozialen Medien sind voll mit Videos und Bildern, auf denen sich die ukrainische Zivilbevölkerung den russischen Militärfahrzeugen, den Panzern und Soldaten unbewaffnet entgegenstellt, um so den Einmarsch in ihre Städte und Dörfer zu verhindern. Ich bewundere diesen unglaublichen Mut dieser Menschen, wie sie für ihr Land kämpfen, für ihre Freiheit und für die Werte der Demokratie in Europa.

Wir waren aufgewachsen in dem unbeugsamen Glauben
an die europäische Mission.
Lassen wir uns nicht beirren durch alle Unvernunft und Unhumanität der Zeit – bleiben wir dem zeitlosen Gedanken der Humanität treu.

Stefan Zweig

27. Februar 2022
Der russische Überfall auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die europäische Demokratie. (…) Der russische Aggressor versetzt seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft. Die Gewaltspirale dreht sich unaufhörlich weiter. Demonstrationen in Russland. Viele Verhaftungen. P. beginnt die Schlinge, die er seiner Bevölkerung vor Jahren um den Hals gelegt hat, endgültig zuzuziehen. Eine freie Meinungsäußerung oder Pressefreiheit gibt es in Russland nicht mehr. P. manifestiert jeden Tag mehr seine Diktatur. (…) Der Deutsche Bundestag kommt in einer Sondersitzung zusammen, bei der Bundeskanzler Scholz eine für seine Verhältnisse flammende, gar patriotische Rede hält. Eine „Zeitenwende“ wird ausgerufen. Es stockt der Atem, irgendwie verstörend, alles.
Es werden 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitgestellt.
Derweil geht das Morden am vierten Tage des Krieges weiter. Doch mit einem hat P. wohl nicht gerechnet, nämlich mit dem Mut der Ukrainer, wie sie für ihre Freiheit kämpfen und mit einer ukrainischen Armee, die sich eben nicht kampflos ergeben wird. Die Idee, mit einem Blitzkrieg die Ukraine zu Fall zu bringen, gilt bereits am ersten Kriegswochenende als gescheitert. – Abends Kino.

28. Februar 2022
Niedergeschlagen und müde. Kaum ist es mir noch möglich, die sich überschlagenden Kriegsmeldungen aufzunehmen und zu realisieren. Kaum komme ich noch mit dem Notieren der Geschehnisse hinterher. Neben mir stapeln sich die Zeitungen der vergangenen Tage. Die Beteuerung des Diktators P., dass nur militärische Ziele attackiert werden, hat sich bereits in den ersten Kriegstagen – wenn nicht Stunden – als abscheuliche Lüge, Hohn und Zynismus herausgestellt. Dieser unerbittliche Terror gegen die Zivilbevölkerung ist die „Methode P.“. Sie ist bekannt. Die ukrainische Bevölkerung wird sie in den nächsten Tagen (wenn nicht gar Wochen) noch verstärkt und in vollem Ausmaße zu spüren bekommen. Wieviel Leid und Gewalt ein alleiniger Mensch (und seine Schergen) anderen Menschen antun kann? Man wird es nie verstehen. – Die Arbeit fällt schwer. Der Februar verabschiedet sich still und traurig. Unheilvoll und gespenstisch, diese unsere Zeit, ja dystopisch.


1. März 2022
Was wird der März uns bringen? Welcher Barbarei werden wir als entfernt stehende, stumme Zeugen zusehen müssen? (…) Die Zahl der Fliehenden wird von Tag zu Tag größer. (…) Der Fernsehturm von Kyiv wird mit Raketen beschossen. Die angrenzende Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar durch den Angriff ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Tote. Ein weiteres Kriegsverbrechen, auf das noch viele folgen werden. (…) Auf die Arbeit kann ich mich nicht konzentrieren. Die Gedanken werden immer wieder hinweggerissen. Was für eine Niedertracht. Aber was will man erwarten? Es ist Krieg mit all seinen Abscheulichkeiten, Gräueltaten und einer unermesslichen, unvorstellbaren Barbarei. Es herrscht große Angst, dass sich dieser Krieg ausweitet. Es ist alles möglich. Überall auf der Welt protestieren die Menschen für den Frieden und gegen P.

2. März 2022
Die ukrainische Hafenstadt Mariupol wurde von der russischen Armee umzingelt. (…) In den letzten Tagen tauchten immer wieder Bilder und Videoaufnahmen von offenbar russischen Minderjährigen und Wehrpflichtigen auf, die total verstört erklärten, dass sie nicht wussten, dass sie in einen Krieg geschickt wurden. Es wurde ihnen gesagt, „man wäre in einem Manöver.“ Die Sätze, die Szenen erinnern mich an Ödön von Horváths Roman Ein Kind unserer Zeit, den er 1937 als Vorwegnahme auf den Terror des Zweiten Weltkriegs schrieb, angefacht und in Brand gesetzt durch die Nationalsozialisten. Als ob irgendwo eine Parallelwelt existiert. Streife durch den Roman.

Es schneit auf das Grab meiner Zukunft.

Ödön von Horváth,
Ein Kind unserer Zeit

3. März 2022
Aufwachen am achten Tag, mit all seinen niederschmetternden Nachrichten. (…) Abends Mahnwache auf dem Marienplatz. Ich komme nur schwer ins Arbeiten.

4. März 2022
Die menschgemachte Hölle.
Wann hört dieser Albtraum auf? Russland hat in der Nacht das größte europäische Atomkraftwerk bei Saporischschja mit Raketen angegriffen. „Kein anderes Land der Welt habe jemals Atomanlagen beschossen“, so der ukrainische Präsident Selenskyj. Man möchte schreien durch die Nacht. Ein Verwaltungsgebäude auf dem Gelände des AKWs ist in Brand geraten. Gegen Morgen entspannt sich die Nachrichtenlage etwas. Es fröstelt mich tief im Innern.
Am Abend gemeinsam mit Damian Mallepree eine neue Ausgabe von Alles Goethe gestaltet. Damian meldete sich aus Straßburg und ich erzählte von meiner aktuellen Arbeit an Stefan Zweigs Die Welt von Gestern, die natürlich vom Krieg nicht unberührt bleibt. Am Ende las ich einen Auszug aus der Rede Die geistige Einheit Europas von Stefan Zweig. Vielleicht haben wir es geschafft, ein wenig Trost und Zuversicht zu vermitteln?
„Man kann nicht für einen Mörder arbeiten und von ihm bezahlt werden.“ Die Leiterin des Meyerhold-Theaterzentrums in Moskau, Elena Kowalskaja, hat ihren Posten gekündigt. „Auch in der übrigen russischen Theaterszene erhebt sich massiver Widerstand gegen Putins Angriffskrieg“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Es wird von Tag zu Tag dunkler in Russland.

6. März 2022
Auch heute wieder verheerende Angriffe auf Mariupol und andere ukrainische Städte wie Irpin, 27 Kilometer nördlich von Kyiv. Flüchtende Menschen werden beschossen, sterben auf ihrer Flucht. Grausame Bilder., zutiefst verstörend. (…) Wieder gehen in den russisch besetzten Städten die Ukrainer auf die Straße und protestieren gegen die Besatzer. Allein in Cherson schätzt man bis zu 2000 Demonstranten. (…) „Dieser Krieg ist keine Schlacht der Völker, sondern der Freiheit gegen die Knechtschaft, der dunklen Archaik gegen die moderne Welt. In unserem Europa haben totalitäre Diktaturen und Autokratien nichts verloren“, so der russischstämmige Schriftsteller Wladimir Kaminer. (…) Ich lese online Tagebucheinträge von Geflüchteten. Immer wieder in diesen Tagen: Ödön von Horváth.

7. März 2022
Der Tag beginnt in der Ukraine wieder mit Sirenen. Ich verfolge die Meldungen. Der Kriegsverbrecher P. facht die Gewalt immer weiter an. Der Krieg tobt und frisst sich mit Terror, Tod und unermesslichen Leid durch die Ukraine. Hier in Deutschland wird unterdessen die Diskussion um einen Import-Stopp von russischen fossilen Brennstoffen immer lauter. Wie lange wollen wir eigentlich noch durch den täglichen Import das System des Despoten P. mitfinanzieren? Ja, wie lange noch? Die Situation scheint ausweglos, die Lage komplex. Deutschland hat sich zu sehr von Russland abhängig gemacht. – Desillusioniert.

8. März 2022
Ich versuche den Tagen eine Struktur zu geben. Versuche zu arbeiten. In einer Parallelwelt wartet Stefan Zweig. Auch Horváths „Kind“ geistert umher. Schlaflos.

10. März 2022
So schnell werden die Kämpfe und das sinnlose Sterben nicht aufhören. P. ist zu keinen Eingeständnissen bereit. Alle Vermittlungen schlagen fehl. Alle Gespräche enden in einer Farce. So erklärte der russische Außenminister zynisch, unter Anführung mehrerer unsinniger Behauptungen, dass der gestrige Angriff auf ein Kinderkrankenhaus gerechtfertigt gewesen sei. Es ist kaum zu ertragen, diesen Menschen reden zu hören. Eiskalt, ohne sichtliche Regung. Gefangener seiner Lügen und der altbewährten Propaganda. „Bei der Kritik an dem Vorgehen, etwa an der Attacke auf eine Geburtsklinik in Mariupol, handle es sich um „erbärmliche Schreie“ der Feinde.“ Was für Bastarde!
Der Krieg in der Ukraine beginnt seine dritte Woche. Still sitze ich hier mit Stefan Zweig, in dieser unwirklichen und doch so wahren Parallelwelt, lesend und arbeitend an meiner Fassung von Die Welt von Gestern. „Einer muss den Frieden beginnen wie den Krieg“, schreibt Stefan Zweigin einem seiner Texte.

Er kann den Krieg, den er begonnen hat, beenden. Selbst, wenn er nicht glaubt, dass er den Krieg gestartet hat, kann er nicht bestreiten, das er ihn beenden kann.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine,
8. März 2022

13. März 2022
Ein sonniger, aber kalter Tag. Ich verbringe ihn mit ausführlicher Zeitungslektüre und dem Nachtragen des Arbeitsjournals am Schreibtisch. Vormittags dabei Mozart und Beethoven, darunter die Chorfantasie op. 80, gehört. – Wie tröstlich! Haltung! – Lesenswerte Artikel werden ausgeschnitten und ins Journal eingeheftet.
Die Suche nach einem Stück für meine Regie am Theater in Annaberg-Buchholz wird hoffentlich in der kommenden Woche abgeschlossen. Die Arbeit will aufgenommen werden! Unter dem Eindruck der vergangenen Wochen kamen mir manche der zur Auswahl gestandenen Texte eigenartig belanglos vor. Schlussendlich habe ich dem Theater tatsächlich Horváths Ein Kind unserer Zeit vorgeschlagen. Aktueller könnten wir auf den Krieg in Europa wohl nicht reagieren. Nun warte ich auf das endgültige OK. Ödön von Horváth – einen schöneren Wiedereinstieg ins Theaterleben könnte ich mir nicht wünschen. Es wäre eine große Herausforderung.

14. März 2022
Sonniger Vorfrühlingstag. (…) Nach dem Festhalten der wichtigsten Schlagzeilen nehme ich Zweigs Die Welt von Gestern zur Hand. Versuche den Krieg im wahrsten Sinne des Wortes „zur Seite zu legen“, um konzentriert an der Lesefassung arbeiten zu können. Vermutlich wird es mir nicht vollkommen gelingen, aber ein Versuch ist es wert. (…) Am Abend wieder die Nachrichten verfolgt, Meldungen sortiert. Hab kein gutes Gefühl, was die nächsten Tage betrifft. Mariupol wird immer mehr zum Symbol des ukrainischen Widerstands. Abgeschnitten von der Welt, trotzen die Bewohner den russischen Schergen, kämpfen um ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Was wird noch kommen? Auch heute die verzweifelte Bitte einer Flugverbotszone über der Ukraine. Eine Forderung, die im Schweigen des Krieges verhallt.

15. März 2022
Wieder geht ein Tag zu Ende, der von kriegerischen Meldungen und Geschichten geprägt war: In der Nacht starker Raketenbeschuss auf Kyiv. Zahlreiche Tote. Die militärische Aggression gegen Kyiv wächst stündlich. Die ukrainische Hauptstadt bereitet sich seit Tagen auf eine mögliche Belagerung vor. Dauerbeschuss auf Charkiw. – In einem Zoo in Kyiv droht den Tieren ein qualvoller Tod durch Hunger und Kälte. Zum Einschläfern fehlen die Medikamente. – Präsident Selenskyj wiederholt noch einmal seine eindringliche Forderung nach einer Flugverbotszone. „Schließen Sie den Luftraum, bitte beenden Sie diese Bombardements.“ Auch diesmal wird sein Rufen unerhört bleiben. (…) Dieser Krieg ist ein unvorstellbares Martyrium auf europäischen Boden. Auch in der dritten Kriegswoche fällt es schwer, es in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen. Ich habe begonnen die Zeitungsstapel der letzten drei Wochen durchzusehen; Artikel als mögliche Materialien für Ein Kind unserer Zeit ausgeschnitten und vorsortiert, ins Arbeitsjournal eingeklebt oder abgeheftet. Mittags auf einen kurzen Zoom-Plausch Anne in Wien getroffen. – Saharastaub färbt nachmittags den Himmel schwefelgelb. Kopfschmerzlicht. Abends Regen. Linsengemüse mit Karotten. Müde und erschöpft.


15. März 2022, später Abend
Horváth ist durch! Ich werde also für das Theater in Annaberg-Buchholz Ein Kind unserer Zeit inszenieren! Premiere Ende September. Wie beklemmend zeitlos, wie aktuell dieser Roman, dieser Stoff nun ist! Ich denke an die Geschehnisse in der Ukraine, wo schlecht trainierte und unerfahrene Wehrpflichtige beim Überfall vom russischen Militär eingesetzt wurden (Süddeutsche Zeitung, 8. März 2022, „Unerfahrene an der Front“)
. Horváth! Neuer Auftrieb. Endlich! Die Arbeit kann beginnen. Noch in der Nacht erste Gedankenschnipsel notiert.

(Auszüge aus dem Arbeitsjournal vom 24. Februar bis 15. März 2022)

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