
Als Ruhe- und Kreativort habe ich den Garten als solches erst vor Kurzem für mich entdeckt. Im Herbst 2018, nach einer zehrenden Regie, mit dem großen Drang in mir mich auszupowern, versuchte ich den jahrelangen Wildwuchs von Sträucher, Bäumen und Stauden zurechtzustutzen. Tagelang schnitt, sägte und tobte ich durch den grünen Dschungel, bis aus dem schattenreichen ein lichtdurchfluteter Freiluftraum wurde. Zum Vorschein kam eine unter dem Efeu schon fast vergessene, mittlerweile stattlich gewachsene Felsenbirne, die seitdem filigran den Mittelpunkt des Gartens bestimmt oder ein vor Jahren angelegtes, verwaistes Staudenbeet, das im Frühsommer 2019 mit viel Einsatz und Freude am Graben und Pflanzen reaktiviert wurde. Ich wurde ruhiger, die Anspannung lies nach und mit der Zeit erlangte ich eine gewisse Ausgeglichenheit, die mich mit Abstand auf die vergangenen Monate blicken ließ.
Unser Garten, vor mehr als 100 Jahren als Teil eines dicht bewachsenen Auwalds an einem kleinen Fluß gelegen, war schon immer ein naturbelassenes Fleckchen für Tier und Mensch. Ein wüst gewachsenes Wohnparadies für Blindschleichen, Kröten, Eichhörnchen, Eidechsen und etlichen Igel-Generationen, deren Daseinsberechtigung vom Hund (Chef) des Hauses nur schwer akzeptiert wird. Wie wird da mit großem Eifer gebuddelt und gegraben, hat man erst eine Spur gewittert. Welch verzweifelte Dramen haben sich schon in dieser von wilden Stauden und Sträuchern umwachsenen Idylle ereignet. Manch gemeuchelter Blindschleiche blieb es leider nicht erspart, als Kriegstrophäe, aus einer Schnauze baumelnd, durch das verwilderte Paradies getragen zu werden. Voller Stolz versteht sich und mit erhobenen Hauptes. Wieder hatte man einen Sieg errungen, über diese unerhörten Eindringlinge!
An diese lebhaften Gartenszenen muss ich denken, wenn ich die berühmten Sätze von Franz Marc aus dem Brief vom 12. April 1915 lese: „Ich empfand schon sehr früh den Menschen als häßlich; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel gefühlswidriges und häßliches, sodaß meine Darstellungen instinktiv (aus einem inneren Zwang) immer schematischer, abstrakter wurden …“
Franz Marc liebte und schätzte die Vorzüge des Landlebens gegenüber dem als hektisch empfunden Treiben der Stadt, im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung. Zeit seines Lebens war er auf der Flucht vor der Wirklichkeit und fühlte sich den Tieren näher als den Menschen, die er in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als hässlich und gefährlich empfand. Während er seinen Stil weiterentwickelte, versuchte er sich den reinen und unschuldigen Wesen in seinen berühmt gewordenen Tierdarstellungen anzunähern, um am Ende zu erkennen, dass auch diese Lebewesen etwas gefühlswidriges und häßliches in sich tragen.
Im Verlauf der mehrmonatigen Beschäftigung mit dem Briefwechsel von Franz und Maria Marc habe ich begonnen, mit einem neuen Blick unseren Garten wahrzunehmen, als ein gemeinsames Refugium von Natur, Tier und Mensch. War ich doch in den vergangenen Jahren nie ein besonders leidenschaftlicher Gärtner, genieße ich den Garten zunehmend als einen Ort des Innehaltens und die damit verbundene Arbeit als Seelenpflege oder wie Hermann Hesse, der passionierte Gärtner, es so treffen beschrieb, als Meditation. In einer weiterführenden Phase meiner Arbeit darf dieser Rückzugsort nun auch zu einem Ort des kreativen Weiterdenkens und des kleinen Experiments werden.
Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist,
Johann Wolfgang Goethe
braucht man nicht um die Welt zu reisen.
Die Idee von einem nachhaltigen Leben, die gerade unsere heutige Gesellschaft immer stärker bestimmt und aufgrund von Globalisierung und Klimawandel noch außerordentlich fordern wird, ist nicht neu. Immer wieder hat sie bereits Generationen vor uns beeinflusst, inspiriert und umgetrieben. Auch den Künstlerkreis des Blauen Reiters, so schreibt im April 1915 Maria Marc an ihren Mann an die Front: „Wann diese schauerliche Morderei wohl ein Ende haben wird? Ich glaube an keine reinigende Wirkung durch etwas böses! Das ist, als wenn man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte. (…) Wenn du erst wieder daheim bist, mein Franzl – dann soll mir diese Welt gleichgültig sein – dann wollen wir in der Kunst leben – und in uns selbst anfangen mit dem besser werden und dem gut werden. Wenn jeder einzelne Mensch auf sein tiefstes, innerstes Gewissen hören würde, dann käme die Welt vorwärts.“ Ein zutiefst humanistischer Gedanke, den hier Maria Marc inmitten des Ersten Weltkriegs formulierte. Ich möchte versuchen, diesen elementaren Gedanken aufzugreifen, wenn ich mich in den nächsten Wochen weiter mit dem Werk des Blauen Reitersauseinandersetze und beginnen werde, in unserem Garten neue Räume zu entdecken und zu schaffen: Der Garten als Tür zu einer Utopie, die geprägt ist von einem humanistischen Miteinander. Begleitende Impulse erhalte ich dazu literarisch von Hermann Hesse, einem Zeitgenossen des Blauen Reiters, oder von den Naturbeobachtungen Johann Wolfgang Goethes und natürlich auch von der Kunst der Blauen Reiterinnen, die sich wiederum für ihre Werke von selbst angelegten Gärten oder der sie umgebenden Natur und Landschaft inspirieren liesen, ähnlich wie Max Liebermann am Wannsee, Claude Monet im franzöisischen Giverny oder Virginia Woolf im englischen Rodmell.
Mai 2020