So weit uns die Schwingen tragen!

Ein Art Prolog

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Franz Marc, Vögel, 1914, Öl auf Leinwand. Lenbachhaus und Kunstbau München

I.

Ein kräftiger, durch die Lüfte ziehender Flügelschlag, alles strebt nach oben, dem Licht entgegen, Grenzen überwindend. Ein flirrendes Schwirren und Flattern liegt in der Luft, ein Zittern, ein Beben. Die Vögel von Franz Marc, an der Schwelle der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts entstanden, gehören für mich zu den eindringlichsten Werken des Expressionisten Marc, der in seiner letzten Schaffensperiode immer mehr die Gegenständlichkeit in seiner Kunst aufzulösen versuchte. Wohin hätte ihn sein künstlerischer Weg geführt, welche Abzweigungen hätte er genommen, wenn ihm die,  zu Beginn der Schlachten als reinigende Apokalypse empfundene, kriegerische Auseinandersetzung nicht das Leben jäh beendet hätte?

Ein Schwirren, ein Flirren, ein Sausen. Aus. 

Welche Entwicklung seine Kunst in der Zwischenkriegszeit genommen hätte, lassen die einmaligen und wertvollen Bleistiftzeichnungen in seinem Skizzenbuch aus dem Felde erahnen, entstanden unter den traumatisierenden Eindruck des kriegerischen Infernos, das ganz Europa in Tod, Elend und Verderben stürzte. Sie, sein künstlerisches Testament, gleichen einer Vision einer neuen Welt, die Ahnung eines Weiterdenkens des eigenen künstlerischen Ausdrucks. 

Ein Schwirren, ein Flirren, ein Sausen. Aus. 

Für einen kurzen Moment, bevor die Vögel ihre Schwingen in die Lüfte erheben, sie von den fliehenden Kräften empor gehoben werden, glaubt man, die Stille zu hören. Eine unfassbare, nie dagewesene Stille. Als ob Franz Marc, in den Wochen des dröhnenden Geschreis nach Krieg, bereits den Augenblick des Friedens von 1918 vorwegnahm. Eine friedvolle Stille. Eine unendliche, fast unheimliche Ruhe. Mit seinem ausdrucksstarken Farbenfächer, der sich aus der Bildmitte heraus als flügelschlagende Bewegung in Szene setzt, zählen die Vögel des Visionärs und Utopisten Franz Marc zu meinen Lieblingsgemälden des Blauen Reiters, noch vor seinen blauen Pferden, die ihn so berühmt machen sollten. 

Ein Schwirren, ein Flirren, ein Sausen. Aus. 

Wie Phönix aus der Asche steigen die Vögel aus dem Dunkel, über die grauenvollen Wirren der Kriegsfronten, aus dem glühenden Rot des Todes empor. Ein Flügelschlag und die aufgefächerte Farbpalette vermischt sich neu und vereinigt sich zu neuen, kräftigen Farbkompositionen. Der lähmenden Stille folgt Aufbruch und Erneuerung. Die inneren Grenzen des Denkens, Fühlens und Handelns werden überwunden. Die Grenzen und die Gegenständlichkeit lösen sich in einem unbeschreiblichen Farbenrausch auf. 

Franz Marcs Vögel als Metapher für die Schöpfung einer sich erneuernden Welt. 

Aus dem Arbeitsjournal April/August 2019

Ich empfand schon sehr früh den Menschen als hässlich;
das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel gefühlswidriges und hässliches, so dass meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang, immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir mit jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewusstsein kam. Vielleicht hat unser europäisches Auge die Welt vergiftet und entstellt; deswegen träume ich ja von einem neuen Europa.

Franz Marc an Maria Marc, 1915 von der Westfront im Ersten Weltkrieg

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