Meine literarische Entdeckungsreise durch die Welt von Gestern

Ein trüber Tag in Salzburg im Frühjahr 2013. Nebelverhangen der Blick auf die Altstadt mit dem Mönchsberg im Hintergrund. Hier verbrachte Stefan Zweig sein zweites Leben von 1919 bis 1934.
Die berühmte Schachnovelle oder seine Lebenserinnerungen Die Welt von Gestern, beides in viele Sprachen übersetzt, zählen zu den Werken der großen Literatur des 20. Jahrhunderts und werden bis heute überall auf der Welt gelesen.
Seine funkelnden Sternstunden der Menschheit historische Miniaturen, fein in der Sprache, erzählen detailreich von den schicksalhaften Augenblicken der Weltgeschichte, die so viel spannender sind, als manch zeitgenössischer, moderner Roman. Diese Miniaturen, sie glänzen noch heute und bereichern jedes Bücherregal.
Stefan Zweig, dem großen Literat und Weltenbummler, und seinen Sternstunden der Menschheit, bin ich vor gut fünfzehn Jahren, während meiner ersten Münchner Regiearbeit zum ersten Mal begegnet. Ich bereitete die Uraufführung eines Schauspiels über die Münchner Widerstandsgruppe Die Weiße Rose vor und darin gab es eine kurze Szene, in der sich Hans Scholl und Alexander Schmorell, die späteren Initiatoren der Widerstandsbewegung, kennenlernen. Bei ihrem Kennenlernen stellen die beiden fest, dass sie mit Stefan Zweigs Sternstunden die selbe, verbotene Literatur lesen. Man kann es sich lebhaft vorstellen, wie Alexander Schmorell, in Russland geboren, die Miniatur über Dostojewski und dessen Begnadigung auf der Hinrichtungsstätte verinnerlicht hat. Stefan Zweig zählte neben anderen, verfemten Autoren zu den meistgelesenen innerhalb des Scholl-Schmorell-Kreises. Aus diesem passiven Widerstand sollte ab 1942 der aktive Widerstand der Weißen Rose erwachsen.
Ab dieser ersten, kurzen Beschäftigung wird mir Stefan Zweig immer wieder bei meiner Arbeit begegnen. Stefan Zweigs Einfühlung in Wesen, Charakter und Gedankenwelt schöpferischer Menschen wurde bereits von Sigmund Freud gerühmt und so stellte sich sein biografisches Essay über Heinrich von Kleist 2010/11 als wertvolle Quelle dar, als ich mich zum Jubiläumsjahr intensivst mit dem Leben und Werk Kleists beschäftigte, dem sich Stefan Zweig, als Psychologe aus Leidenschaft, ebenfalls so verbunden fühlte. Wieder war es Stefan Zweig, der mir durch seine Kunst, historische Begebenheiten so spannend wie verständlich zu erzählen, neue Gedankenwelten erschloss.
Es war daher nicht verwunderlich, dass ich mich über kurz oder lang nun auch mit seiner Persönlichkeit, seinem Leben beschäftigen wollte. Anfang 2015 begann ich für eine im folgenden Herbst geplante Inszenierung über das Exil Stefan Zweigs in Brasilien zu recherchieren, die ich jedoch in München nicht mehr realisieren konnte. Die Ideen dazu warten noch immer, auf dem Schnürboden, auf ihre Realisierung.
Bei (…) gestrigen Gedanken über Deine Freunde (…) fiel mir andererseits schwer aufs Herz, daß Dich kein Mensch – außer mir – wirklich kennt, und daß einmal die hohlsten, blödsinnigsten Sachen über Dich geschrieben sein werden. Allerdings läßt Du Dir ja auch wenige mehr nahe genug kommen und bist, was Deine eigene Person betrifft, verschlossen (nur zu begreiflich). Dein Schrifttum ist ja nur ein Drittel Deines Selbst, und auch das Wesentliche daraus für die Deutung der anderen zwei Drittel hat niemand erfaßt.
Friderike Zweig
Ja, wer war dieser Stefan Zweig? Über sich und seine innersten Gedanken und Gefühle vermochte er nur selten Auskunft zu geben. Stefzi, so wurde er liebevoll von seiner ersten Ehefrau Friderike genannt, wirkte wohl selbst auf engste Freunde und Bekannte oft verschlossen, nahezu schüchtern. In Gesellschaften hielt er sich vornehm zurück, sensibel und still. Dennoch konnte er Besucher seines Hauses auf dem Kapuzinerberg in Salzburg gelegentlich überraschen, wenn er ihnen in den damals so modernen kurzen Hosen die Tür zu seiner Villa Europa öffnete. Ja, da staunten sie nicht schlecht! Der Zweig Stefzi leger, sportlich, in der „Kurzen“. Wer hätte das für möglich gehalten! Kannte man ihn doch von den zahlreichen Fotografien nur mit perfekt sitzenden Anzügen. „Dein Schrifttum ist ja nur ein Drittel Deines Selbst“, schrieb Friderike Zweig 1930 an ihren Ehemann. Stefan Zweig, eine rätselhafte Persönlichkeit, der sich nicht gerne hinters Gesicht schauen ließ.
Wer sich intensiver mit dem Leben und Werk Stefan Zweigs beschäftigen möchte, dem kann ich an dieser Stelle nur die Biografie Drei Leben von Oliver Matuschek empfehlen. Flüssig, sachlich und mit vielen spannenden Details versehen führt Matuschek seine Leser durch die drei Leben des Stefan Zweig. Auch mir hat diese Biografie den Einstieg in das Leben und Werk Zweigs erleichtert und neugierig gemacht, das Wesen des Weltenbürgers Zweig zu erforschen, zu hinterfragen.

Eine Fotografie, die Stefan Zweig im Garten der Villa Europa mit kurzen, weißen Hosen zeigt.
Drei Leben, so sollte auch ursprünglich die von Stefan Zweig als Autobiografie geplante Welt von Gestern heißen. Stefan Zweig teilte seine Erinnerungen in drei wesentliche Lebensabschnitte ein: das erste Leben spielte sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in einem scheinbar wohlbehüteten, gutbürgerlichen Milieu in Wien ab. Das zweite Leben war wohl das produktivste und erfolgreichste Stefan Zweigs, da sich in diesem Abschnitt sein Aufstieg zu einem der meistgelesenen und bekanntesten Schriftsteller seiner Zeit vollzog. Spätestens 1933 begann für Stefan Zweig sein drittes, kürzestes Leben. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Zweig zu einem verbotenen Schriftsteller. Seine Bücher wurden aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verbannt, später verbrannt. Noch vor dem Anschluss Österreichs 1938 emigrierte Stefan Zweig ins Ausland. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Zweig im Exil.
Die Welt von Gestern ist mehr die Chronik einer untergehenden Gesellschaft, als eine Autobiografie. So hat Stefan Zweig seine beiden Ehefrauen Friederike und Lotte in dem gesamten Manuskript, welches er natürlich wie immer mit seiner zum Markenzeichen gewordenen violetten Tinte schrieb, mit keinem Wort erwähnt. Dennoch wurde Die Welt von Gestern zu einem seiner persönlichsten Werke und zu einem eindringlichen Appell für unsere Zeit.
Sie wissen , wie sehr ich des Lebens müde war,
seitdem ich meine Heimat, Österrich, verloren hatte.
Stefan Zweig an Abrahão Koogan, Petrópolis, 18. Februar 1942
Über die letzten Jahre hinweg, hat mich Die Welt von Gestern, dieses literarische Gemälde einer längst untergegangenen Zeit, nicht mehr losgelassen. Egal ob ich mir für meine Lesungen Arthur Schnitzler und seine süßen Mädel aussuchte oder ob ich mich mit Franz Kafka und dessen nicht gelebter Liebe zu Milena Jesenská beschäftigte, es war jedes Mal auch eine Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der Welt von Gestern; einer Zeit, die Stefan Zweig so prägte, die ihm Heimat war und die er am Ende seines Lebens so kongenial beschrieb.
Wie Satelliten kreisen meine Literaturprojekte um diese Zweigsche Welt von Gestern, in der so viel Erkenntnis und Wahrheit für unsere Gegenwart verborgen liegt: Stefan Zweig, der große Europäer, ist die mahnende Stimme aus der Welt von Gestern. Wir sollten ihr genau zuhören, damit die Idee von einem demokratischen und vereinten Europa nicht vor die Hunde geht. Wir haben viel zu verlieren, in unseren Tagen.
Mit der folgenden Beschäftigung mit dem Briefwechsel zwischen Franz und Maria Marc beginnt ein weiterer Satellit seine Bahnen um diese Welt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu ziehen. Die teilweise zum ersten Mal veröffentlichten Briefe erzählen nicht nur die Liebesgeschichte des Künstlerpaars Marc, sondern ermöglichen vielmehr auch einen unverstellten Einblick in das alltägliche Leben, die Kunstszene und das Kriegsgeschehen der damaligen Zeit. Mit Franz und Maria Marc, den Mitgliedern des Blauen Reiters, setze ich meine literarische Reise durch Die Welt von Gestern fort, bevor ich noch weitere Stimmen aus dieser Zeit entdecken möchte: Joseph Roth und Irmgard Keun, Ödön von Horváth, Musil, Werfel, Feuchtwanger, um nur einige zu nennen und natürlich immer wieder Stefan Zweig. Ich glaube, es ist an der Zeit, sich mit dem Text des eigentlichen Werks, das mich so nachhaltig beeindruckt und beschäftigt, auseinanderzusetzen und daraus einen abendfüllenden Abend zu kreieren. Und nicht zu vergessen, die unzähligen Briefe und Erzählungen, die der weit vernetzte Kosmopolit Stefan Zweig hinterlassen hat! Genug Material, für noch viele weitere literarische Reisen durch Die Welt von Gestern.