Franz Marc, Reh im Klostergarten, 1912

II.
Immer wieder Rehe.
Als sich im Mai 1910 Franz und Maria Marc endgültig von München verabschiedeten und der wachsenden Großstadt den Rücken kehrten, um hinaus ins Murnauer Land zu übersiedeln, widmete sich Franz Marc in den folgenden Jahren verstärkt der Darstellung des Tieres in seinen Werken. Das Reh wird dabei zu einem seiner bevorzugten Objekte. Ob nun Rehe im Schnee, Reh im Walde, getötetes, kauerndes oder sterbendes Reh, rote Rehe oder eben das Reh im Klostergarten – als scheues, sensibles Wesen der Schöpfung rückt das Reh auf vielen seiner Bilder in den Mittelpunkt seiner Kunst. Franz Marc liebte die flinken Ricke und später, als er zusammen mit seiner Frau Maria ihr eigenes Haus in Ried bei Benediktbeuern bezog, musste als erstes ein Gehege für die zwei Rehe, Hanni und Schlick, gebaut werden, welche von Franz Marc inzwischen gehalten wurden.
Gibt es für einen Künstler eine geheimnisvollere Idee,
Franz Marc
als die, wie sich wohl die Natur in dem Auge eines Tiers spiegelt?
Das Reh im Klostergarten hat etwas von einem geheimnisvollen, futuristischen Märchenwald. Abstrakte Formen bilden in einer aufgewühlten Anordnung eine grün-bläulich schimmernde Landschaft, die spitz zulaufende Berge und dicht stehende Tannen erahnen lassen. Still, leise steht im schützenden Gebüsch ein Reh(kitz). Scheu, unschuldig schnuppernd, blickt es rückwertsgewandt zum Nachthimmel empor. Die helle Scheibe des Mondes schiebt sich links durch die dunklen Formen der Nacht und erhellt flüchtig das Reh in der Mitte des Bildes.
Dieses Werk von Franz Marc erzählt vielleicht auch von einem Idyll, das zu zerbrechen droht, das gefährdet ist. Diffuse Lichtblitze durchkreuzen die Szene. Ist das die Ahnung einer erschütternden Gefährdung oder einer inneren Unruhe, die utopische Idee vom friedlichen Zusammenleben aller Lebewesen der Schöpfung nicht vor der Apokalypse bewahren zu können?
Dem mit vielen Hoffnungen verbundenen Idyll im Blauen Land war nur eine kurze gemeinsame Zeit beschieden.
Aus dem Arbeitsjournal, Anfang bis Mitte September 2019