Ein ganzes Leben in einem Koffer oder Dulcamara und das ungelebte Leben

Ein Requisit und seine Bedeutung für die Rolle anhand der Figur des Dulcamara in meiner Inszenierung von L’elisir d’amore 

Die Entwicklung der Dulcamara-Figur, dem geheimnisvollen Dottore, hat sich über viele Wochen hingezogen. Als ich begonnen hatte, mich mit dem Stoff und den Rollen von L’elisir d’amore zu beschäftigen, schien alles auf den ersten Blick klar und einfach zu sein. Schnell entstanden erste Dulcamara-Skizzen und Collagen. Doch zunehmend wurde mir dieser ausgedachte Dulcamara fremder. Dieser erste Wurf des Dottore wollte nicht wirklich lebendig werden. Zu einfach, zu schablonenhaft gedacht? Kurz vor Beginn der szenischen Proben alles auf Anfang.

Wenn einem nach dem ersten lesen des Textes, der ersten vagen Beschäftigung mit einer Figur scheinbar alles klar vor Augen liegt, ist Vorsicht geboten. Man sollte auf der Hut sein. Trügerisch wähnt man sich mit der Figur und dem Stück in Sicherheit. Egal, ob nun als Regisseur oder als Schauspieler, Sänger: man darf es sich und den Rollen, die man zum Leben erwecken möchte, nicht zu leicht machen. Die Gefahr ist zu groß, dass die Rollen immer irgendwie nach „Papier“ klingen, „klischeeartig handeln“ oder schlichtweg langweilig sind. Irgendwann verbündet sich die Rolle mit dem Autor und gemeinsam schlagen sie mit vehementer Kraft und Macht zurück. Spätestens auf der Probebühne, wenn man lähmend, phantasielos mit ihr auf der Stelle tritt, sollte man sich mit ihr in die Garderobe zurückziehen und einen Neuanfang wagen. 

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Der golden schimmernde, geheimnisvolle Koffer von Dulcamara, dem weisen Dottore in L’elisir d’amore. (Foto: Joe Hofer)

Wer ist nur dieser Dulcamara? 

So ähnlich erging es mir während der Konzeption zu „L’elisir d’amore“ mit der Rolle des geheimnisvollen Dottore Dulcamara.  Eine kleine Ewigkeit dachte ich über diesen Bittersüßen, umherziehenden Phantasten und Schlitzohrigen nach. (Und ich tu es immer noch!) Wochenlang ging ich schwanger mit dieser Figur. Allein die Fragen nach seinem Erscheinungsbild oder über seinen ersten Auftritt, der in der Regel immer groß in Szene gesetzt wird, beschäftigten mich tagelang ohne zu einem befriedigenden Ansatz zu gelangen. Jede noch so kleine Idee ließ mich am Ende ratlos zurück. Keine wollte so richtig zünden. Jedes noch so schöne und auch vielleicht interessante Dulcamara-Bild fühlte sich  nach näherem Besehen „abgekupfert“ an, als ob es irgendwo schon einmal „dagewesen“ wäre. Ein Abziehbild von einem Dulcamara – das wollte ich nicht. 

Ein erster Durchbruch gelang, als ich mich mit Jens Olaf Müller, dem Sänger des Dulcamara, zu einem ersten Rollengespräch traf. Aus einem kleinen Missverständnis innerhalb des Gesprächs (ich redete mal wieder unglaublich viel und lange) entwickelte sich am Ende unsere jetzige Auftrittssituation für den Dulcamara. Ich bin Jens heute noch für diesen Gedanken im Stillen dankbar:

Drittes Zeichen, die Vorstellung beginnt. Im Halblicht tritt der Dirigent vor das Publikum. Beifall. Verbeugung. Noch bleibt der Taktstock gesenkt. Das verbliebene Licht des Zuschauerraums fährt runter. Es wird dunkel. Links vorne öffnet sich vorsichtig auf Höhe der Zuschauer eine Tür. Ein Mann tritt heraus. Wer ist der Fremde mit dem schäbigen, vom Leben gezeichneten, etwas golden schimmernden Koffer? Ein Obdachloser? Früher auch Landstreicher genannt? Er betritt die Bühne, den Dachboden. Hat er sich verirrt? Es ist Nacht. Diffuses Licht von oben auf die Szene. Kriegsspielzeug vorne an der Rampe, aufgetürmt auf einem dunklen Erdhaufen. In der Mitte des Raumes Gerümpel, unter einer alten Lampe Bücher, Zeitungen.. Die Luft ist stickig. Der Staub des Spätsommers erschwert das Atem. Der Mann sucht vielleicht nach einem Schlafplatz. Er hat Durst. Er murmelt vor sich hin. In einer Ecke entdeckt er einen alten Sessel. Schwer lässt er sich hineinfallen. Müde von einem langen Tag schläft er ein. 

Die Ouvertüre beginnt. 

Unser Dulcamara ist vielleicht gar nicht der Dulcamara, für den ihn alle halten. Vielleicht gibt es diesen dubiosen Dulcamara gar nicht? Vielleicht ist er eine Erfindung des Dorfes, von Generation zu Generation zur Erheiterung weitergegeben? Der Dulcamara in unserer Inszenierung für die Oper Schloss Maxlrain ist ein Umherziehender. Ein Ruheloser, der es selten länger an einem Ort aushält. Ein Geschichtensammler, Erzähler und Fallensteller, Theatergaukler und Überlebenskünstler. Ein wandelndes Chamäleon, welches sich je nach Lage den Zeiten anpasst und sich mit den Gegebenheiten arrangiert. 

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Jens Olaf Müller (Dulcamara) während einer L’elisir d’amore-Probe am 17. Juni in der Reithalle von Schloss Maxlrain.

Das Geheimnis des Koffers 

Ausschlaggebend für die weitere Entwicklung der Dulcamara-Figur war dann tatsächlich der Koffer, Jens‘ persönliches Spielrequisit, der bald nach Probenbeginn für seinen Einsatz bereitstand. Während Jens seine Auftrittsarie probierte, improvisierte er mit dem Koffer. Wie sollte er ihn tragen, behandeln? Eine entscheidende Frage, wenn man überlegt, was sich denn eigentlich geheimnisvolles in diesem Koffer befindet. Die Annahme, dass darin Zauberfläschchen und Mixturen jeglicher Art aufbewahrt wurden, um sie gewinnbringend zu verkaufen, kam uns etwas plump und eindimensional für unseren Dulcamara vor.

Während den Improvisationen trug Jens/Dulcamara den Koffer vorsichtig, fast ehrfürchtig  beschützend, nahe an seinen Körper gepresst. Beim Zusehen kam mir ein ähnliches Motiv in den Sinn, welches ich bereits bei meiner Inszenierung der Weißen Rose 2004 verwendete: dort trugen die Mitglieder des Scholl-Schmorell-Kreises ihre Lebenserinnerungen symbolisch in Koffern durch das Stück.

„Jens, ich glaube unser Mann hier, dieser Theatergaukler, hat das Konzentrationslager überlebt“, sprach ich plötzlich meine Idee aus. Und da war sie, die Rollenbiografie für unseren Dulcamara. 

Aus den Notizen während den Proben vom 13. und 16. Juni 2017: 

Der Mann, ein ehemaliger Opernsänger, eher im Chor als solistisch tätig, kleine Wurzen auf diversen Bühnen. Er lebte für und mit dem Theater. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann sein Lebenskampf: jüdische Künstler durften fortan ihren Beruf nicht mehr ausüben. Zu Hunderten wurden sie von den Bühnen des Dritten Reiches ins Exil vertrieben, ins KZ verschleppt und ermordet. Der Mann musste die Bühne mit der Baracke tauschen. Aber er spielte weiter. Er spielte um sein und der anderen Leben. Leise sang er, ab und an, wenn die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit die Eingesperrten in den Baracken ergriff, die Arie des Dulcamara aus Donizettis „L’elisir d’amore“. Seine Traumrolle, die er nie auf einer Bühne singen durfte. Jetzt wurde sie zum Lebenselixier vieler.

„Hört zu! Hört zu, ihr Landleute! Gebt Obacht, plaudert nicht! Ich nehme an und vermute, dass ihr schon von mir wisst, dass ich der große Medikus bin, der enzyklopädische Doktor mit Namen Dulcamara, dessen berühmtes Talent und zahllose Wundertaten bekannt sind auf der ganzen Welt. Als Wohltäter der Menschheit, Heiler der Krankheiten, in wenigen Tagen erleichtere und leere ich die Spitäler und komme, die Gesundheit der ganzen Welt zu verkaufen.“ 

(Übersetzung: Gerd Ueckermann)

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Fundstücke auf dem Areal des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. (Foto: Dauerausstellung der Denkstätte Buchenwald, Februar 2014) 

Mit Fundstücken von unzähligen ungelebten, gestohlenen und ermordeten Leben im Koffer machte er sich nach der Befreiung auf den Weg, mit unbekanntem Ziel. Ein Ruheloser, ein von den Erinnerungen Getriebener. Einer, der davon erzählen möchte. Einer, der Mut machen möchte. Einer, der spielen möchte. Einer, der den Mut zum Leben nicht verloren hat, trotz allem. Der trotz allem „Ja“ zum Leben sagt. 

So verirrt er sich auf den Dachboden von Adina, Giannetta und Nemorino und in das Spiel um den „Liebestrank“. Noch einmal spielt er die Rolle seines Lebens. Die Rolle des Dulcamara, des weisen Dottore. Ein Spiel im Spiel.

Mit seinem Spiel verführt er sie zum Leben. 

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