Franz Marcs Neujahrskarte Turm der blauen Pferde, 1913

IV.
Das schönste Jahr wünscht der Prinz von Theben
Else Lasker-Schüler am 31. Dezember 1912
Junge Pferde
Wer die blühenden Wiesen kennt
Und die hingetragene Herde,
Die, das Maul am Winde, rennt:
Junge Pferde! Junge Pferde!
Über Gräben, Gräserstoppel
Und entlang den Rotdornhecken
Weht der Trab der scheuen Koppel,
Füchse, Braune, Schimmel, Schecken!
Junge Sommermorgen zogen
Weiß davon, sie wieherten.
Wolke warf den Blitz, sie flogen
Voll von Angst hin, galoppierten.
Selten graue Nüstern wittern,
Und dann nähern sie und nicken,
Ihre Augensterne zittern
In den engen Menschenblicken.
Paul Boldt
Anfang Dezember 1912 reisten Franz und Maria Marc nach Berlin, um dort zusammen mit Marias Eltern die Weihnachtszeit und die Jahreswende 1912/13 zu verbringen. Die Zeit und Gelegenheit nützend, verabredeten sie sich auch mit Else Lasker-Schüler, jenen Dichterin, deren Lyrik sie bereits aus der Zeitschrift Der Sturm kannten: Im November 1912 nahm Lasker-Schüler brieflichen Kontakt auf, nachdem Franz Marc ihr Gedicht Versöhnung für den Sturm mit einem Holzschnitt illustrierte.
„Wir sahen Else Lasker-Schüler zum ersten Mal, als wir, nach einem Vortragsabend von Mombert, mit Walden und seiner Frau Nell im Café Josty am Potsdamer Platz saßen. Sie war Walden und Nell damals sehr feindlich gesinnt und blieb mit ihren Bekannten an ihrem Tisch sitzen. Man schaute und blinzelte von einem Tisch zum anderen, ohne sich bekannt machen zu können.“, so schildert Maria Marc den Verlauf der ersten Begegnung im angesagtesten Künstlercafé Berlins, in dem die Bohèmes des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit ein und aus gingen. Franz und Maria Marc mussten wohl manch giftigen Blicken ausweichen, die sich die frisch geschiedenen Eheleute Herwarth Walden, Herausgeber des Sturms, und Else Lasker-Schüler über die Tische zuschossen. „Wir erleben hier viel, auch Erlebnisse, die uns glücklich machen. Wir haben hier einen prachtvollen Menschen gefunden: Else Lasker-Schüler; sie wird wahrscheinlich für ein paar Wochen im Januar nach Sindelsdorf kommen, worauf wir uns riesig freuen.“, berichtet Franz Marc am 23. Dezember 1912 nach München zu Wassily Kandinsky.
Aus dem Berliner Zusammentreffen von Franz und Maria Marc mit der Dichterin Else Lasker-Schüler entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung, die sich in zahlreichen, kunstvoll gestalteten Briefen und Postkarten widerspiegelt. Am 1. oder 2. Januar 1913 schickt Franz Marc Else Lasker-Schüler eine farbig gefertigte Skizze seines späteren Gemäldes Der Turm der blauen Pferde, das er 1913 schaffen wird. Das berühmte Werk, von den Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt, gilt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen. Der Nachtwelt ist nur die Skizze auf der Postkarte zum Jahresbeginn 1913 erhalten geblieben.
„Allerbeste Frau Mareia, Sie lieber blauer Reiter. Wie schön ist die Karte – ich habe mir zu meinen Schimmeln immer solche meiner Lieblingsfarbe gewünscht. Fabelhaft künsterlisch sind die Mondsicheln, egypt. Kronprinzendolche, in der Haut der wiehernden Sagen. Wie soll ich Ihnen danken! Und Mareia der Goldblonden?“, antwortet Else Lasker-Schüler euphorisch und reist zusammen mit den Marcs am 6. Januar 1913 nach Sindelsdorf, ehe sie sich, von dem beschaulichen Landleben angeödet und deprimiert, in München eine Unterkunft suchte.
Was wissen die Armen, denen nie ein Blau aufging am Ziel ihres Herzens oder
Else Lasker-Schüler
am Weg ihres Traums in der Nacht. Oder die Enthimmelten, die Frühblauberaubten.
Das erwähnte Künstlercafé Josty am Postdamer Platz diente auch dem jungen Schriftsteller Paul Boldt als Schauplatz seines Sonetts Auf der Terrasse des Café Josty. Boldt, der heute nahezu Vergessene des literarischen Expressionismus, zählte wohl zu den hoffnungsvollsten Nachwuchstalenten der Literaturszene vor dem Ersten Weltkrieg. Zufällig habe ich sein oben zitiertes Gedicht Junge Pferde in einer Anthologie mit Gedichten des Expressionismus gefunden (erschienen im Wagenbach Verlag), als ich nach einem begleitenden Gedicht für Marcs Turm der blauen Pferde suchte.
„So schattenreich wie seine Biographie ist auch seine Lyrik, die das Berlin der Zehnerjahre in ein verheißungsvolles Dämmerlicht taucht.“, schreibt die Frankfurter Allgemeine am 22.8.2008 in einer überschaubaren Rezension, anlässlich der Wiederentdeckung seines einzigen Gedichtbands.
Von Paul Boldt ist nicht viel bekannt. Es existiert nicht einmal ein Foto von ihm. Angeblich, weil er es ablehnte, fotografiert zu werden. Vielmehr sind wohl Fotografien zusammen mit seinem schriftstellerischen Nachlass, von seiner Halbschwester in einem Koffer über den Zweiten Weltkrieg gerettet, in den Flucht- und Kriegswirren verloren gegangen. Einzig diese vage Beschreibung von Kurt Hiller versucht uns die Persönlichkeit etwas näher zu bringen: „Er war lang und etwas plump, sah wie ein Pferd aus, stammte aus einem Nest in Westpreußen, war scheu und liebenswürdig, schuf nur Formvollendetes, übrigens rein sensuale Sachen, hatte kaum enge Freunde, aber bestimmt keinen Feind, eines Tages (wohl noch im 1. Weltkrieg) verschwand er, man hörte nie von seinem Tod etwas, theoretisch möglich wäre, dass er noch lebt.“
Paul Boldt starb am 16. März 1921 mit 35 Jahren nach einer Operation in Freiburg im Breisgau an einer Embolie.
Aus dem Arbeitsjournal 1./2. Januar 2020, Jahresbeginn
Lieber Michael,
ein frohes neues Jahr dir auch hier. Wie gerne lese ich dein Arbeitsjournal. Die Kaffeehäuser der Expressionisten – darüber habe ich ja im letzten Jahrhundert meine Magisterarbeit geschrieben 🙂 Schön, wenn ich all dem hier wiederbegegne. Ich fiebere mit dir deiner Premiere entgegen und würde am liebsten auch kommen. Als Ersatz dient mir einstweilen dein Schreiben.
Sei herzlich gegrüßt
Anke
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Liebe Anke,
wenn auch etwas verspätet, aber dennoch von Herzen, auch Dir an dieser Stelle ein gutes neues Jahr. Mögen sich viele Türen für neue kreative Projekte und Begegnungen auftun. Ich freue mich sehr, dass Du meine Arbeit so aufmerksam und offen begleitest. Auch das eine oder andere Feedback nehme ich immer dankbar an. Willkommene und dankbare Inspirationen, die immer zum Weiterdenken beflügeln. Gerade ist neben dem raumfüllenden Franz-und-Maria-Marc-Projekt noch einiges andere los: in zwei Wochen beginnen hier in Bad Aibling die Max-Mannheimer-Kulturtage. Bereits zum 3. Mal laden wir unter dem Motto #MiteinanderErinnern“ zum aktiven und gemeinsamen Erinnern für die Zukunft ein. Das gemeinsame Projekt, getragen von Institutionen und Vereinen gleichermaßen, entwickelt sich gut und wird dankbar angenommen, nicht nur hier in der Stadt, sondern über die Grenzen hinaus, was ich auch sehr spannend finde, da sich Neues ergibt und man die Idee auf vielfältige Weise weiterdenken und voranbringen kann. (Es zeigt aber auch, wie wie wichtig solche Projekte gerade in unserer Zeit sind!) Natürlich heißt das auch: viel zusätzliche Arbeit in diesen Tagen und Wochen. Hier im Theateratelier begegnen sich in diesen Tagen – gedanklich – Franz und Maria Marc mit Heinrich Böll: ihm widme ich während den Kulturtagen eine ganze Matinée und die gehört sich nun konzipiert und zusammengestellt. Das neue Jahr hat schon recht arbeitsam begonnen. Ich schicke liebe Grüße nach Köln!, herzlichst Michael
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