Das große Schweigen muss ein Ende haben

Rede am Vorabend des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus 2024


Seit den Veröffentlichungen von Correctiv am 10. Januar 2024 gehen in Deutschland tagtäglich Tausende von Menschen auf die Straßen ihrer Städte und Dörfer, um gegen Rechtsextremismus in unserem Land, insbesondere gegen die AfD zu protestieren. Auch ich habe mich eingereiht und inzwischen an mehreren Demonstrationen teilgenommen, um für unsere freiheitliche und liberale Gemeinschaft einzustehen. Am Vorabend des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hielt ich in Rosenheim auf der Kundgebung »Bürger*innen gegen Rechts« folgende Rede:

»Es könnte eine Zeit kommen, in der es als politisch nicht mehr opportun gilt, den Verbrechen der Vergangenheit jene Namen zu geben, die ihnen gebühren; erst dann werden wir beweisen können, wieviel uns die Freiheit wert ist.« Dieses Zitat des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll stammt aus seiner Rede „Der Preis der Versöhnung“, von 1959, die mit folgenden Worten einsetzte: 

»In einer Stunde wie dieser, die der Erinnerung an die Opfer der Judenverfolgung gewidmet ist, betreten wir einen unheimlichen Raum. In diesem Raum reicht die Sprache nicht aus, und so ist alles, was ich sage, zur Hilflosigkeit verdammt, zur Unzulänglichkeit; in diesem Raum reichen auch Empfindungen wie Scham und Reue nicht aus, Trauer und Schmerz, füllen ihn nicht. Es bleibt ein Rest. Was in Auschwitz geschah, an den anderen großen Vernichtungsstätten, ist nicht faßbar; selbst für die nicht faßbar, die Augenzeugen gewesen, der Vernichtung entronnen sind und das schreckliche Geheimnis weiterzugeben, zu erklären versuchten.«

Wenn wir am morgigen 27. Januar, dem alljährlich wiederkehrenden Holocaust-Gedenktag, einmal mehr den Millionen Opfern des Nationalsozialismus gedenken, wird dieses Erinnern unter den Eindrücken der Veröffentlichungen von Correctiv vom 10. Januar 2024 stehen. Die Fassungslosigkeit darüber, was in Auschwitz geschah und unsere routiniert zelebrierte Erinnerungskultur bestimmte, weicht einer neuen Fassungslosigkeit, einem bösen Aufwachen in der Gegenwart. Offensichtlich diente unser Erinnern jahrelang vor allem der Selbstberuhigung, als der tatsächlichen Aufarbeitung. Einer Aufarbeitung, verbunden mit einem empathischen Verstehen, was Erinnern im 21. Jahrhundert für uns als demokratische Gesellschaft tatsächlich bedeutet. Denn wie kann es denn sonst sein, dass Politik, Medien und Teile der Gesellschaft dabei mehr oder weniger tatenlos zusahen, wie eine rechtsextreme Partei in Wort und Tat immer mehr Land gewonnen hat? Wie sich ihre menschenverhöhnende Sprache und ihr Denken zunehmend einnistet und manifestiert? Diese Partei ist verfassungsfeindlich und hat in unseren Parlamenten nichts verloren. 

Zeitzeugen von Auschwitz, wie Esther Bejarano oder Max Mannheimer, haben uns ein Vermächtnis, einen Auftrag erteilt. Erinnern an den Holocaust heißt, vor allem auch Empathie zeigen mit den heutigen Opfern von Antisemitismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit. Dies fordert von uns allen eine entschiedene Haltung gegen Hass und Hetze, gegen neofaschistisches und menschenverachtendes Gedankengut, das sich in unserer Gesellschaft besorgniserregend ausbreitet. Das alles vergiftet unser Zusammenleben und stellt einen Angriff auf unsere demokratische Verfassung dar. Angesichts der alarmierenden Entwicklung und Radikalisierung muss das Schweigen ein Ende haben. 

Die Recherchen von investigativen Journalist*innen legten offen, was viele in unserer Gesellschaft seit Jahren nicht wahr haben wollen: Die AfD, mit ihren skrupellosen Ideen- und Geldgebern, ist eine zutiefst gefährliche, antidemokratische und verfassungsfeindliche Partei. Viel zu lange wurde beschwichtigt, weggesehen, verleugnet. Und wir müssen aufhören, uns mit dem Märchen von den »gemäßigten« AfD-Mitgliedern zu beruhigen. Diese Partei ist durch und durch rechtsextrem. Sie will mit ihren völkisch-nationalen Ideen unsere Demokratie zerstören, unsere liberale Gesellschaft  spalten und uns in ein autokratisches, diktatorisches System zwingen. 

Derlei kann doch nicht dauern im einundzwanzigsten Jahrhundert, mag manch einer dagegenhalten.  „Die Welt horchte auf und weigerte sich zunächst, das Unglaubhafte zu glauben“, so Stefan Zweig 1943 in seiner Welt von Gestern, die sich in vielerlei Hinsicht immer mehr zu einem Spiegel der Jetzt-Zeit offenbart. 

»So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick des Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch jenseits der Grenze vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zu Grunde ging.« 

Am Schluss möchte ich Max Mannheimer zitieren, dem Namensgeber der Kulturtage in Bad Aibling, die ab Samstag, 27. Januar wieder stattfinden werden:

»Und so träume ich von einer Welt, in der Humanität an erster Stelle steht, in der Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Platz haben. Von einer Welt, in der alle Menscheneinen verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit garantieren und aus der historischen Erfahrung von uns Überlebenden Handlungsmaximen für die Gegenwart ableiten.«

Stehen wir dafür ein, dass es kein Traum bleibt. Das große Schweigen muss ein Ende haben.


© Michael Stacheder, Januar 2024

Die Rede wurde am 26. Januar 2024 bei der Kundgebung Bürger*innen gegen Rechts auf dem Max-Joseph-Platz in Rosenheim gehalten.
Es gilt das gesprochene Wort.

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