Der Himmel ist zart, die Erde blass

Tagesschnipsel April 2024


Der Himmel ist zart, die Erde blass.
Die Welt ist ein Aquarell mit dem Titel April.

Ödön von Horváth

Ostermontag, 1. April 2024

Zeigte sich der Morgen noch freundlich heiter, zogen im Laufe des Vormittags aus dem Western her kommend dunkle Regenwolken heran. Stürmische Böen, die den Föhn über den Bergen rasch zusammenfallen ließen. Der April setzt sich einen beschwingten Anfang. Gegen Mittag graue Wolken, die noch kahlen Bäume biegen sich im kühlen Wind, der tüchtig an ihren Ästen zerrt und rüttelt. Ich sitze am Schreibtisch und prophezeie mir einen arbeitsreichen Monat. Mein Blick schweift hinaus in in den gräulichen Ostermontag. Die Berge sind verschwunden. Der Wind pfeift. Es regnet.


2. April 2024

Seit spätestens Mitte Februar »überwinterte« ich konzentriert arbeitend am Horváth-Projekt. Zurückgezogen, sich möglichst fern haltend von allen äußeren Ablenkungen, entstand Tag für Tag aus den gesammelten Skizzen und Überlegungen eine Bühnenfassung, die ich vor den Ostertagen fertigstellen konnte. Gerade sitze ich an den Korrekturen, nicht ohne auch einen Blick auf die Weltlage zu haben – prekär (ein neues Lieblingswort in den Nachrichten) wie eh und je. Den Ukrainer:innen war keine Verschnaufpause an den Ostertagen vergönnt. Unaufhörlich greift Russland seinen Nachbarn mit Drohnen und Raketen an. Seit Wochen zielen die Angriffe wieder verstärkt auf die zivile Energieinfrastruktur. Überall in der Ukraine werden wichtige Heiz-, Strom- und Wasserwerke zerstört. Gewalt und Terror fressen sich weiter durch die Ukraine. Aber die Menschen dort geben nicht auf. Und auch wir sollte nicht aufhören, an einen ukrainischen Sieg über den russischen Terror zu glauben.

Ich höre die Meldungen aus Israel, aus Gaza. Auch hier ist die Lage niederschmetternd. Noch immer befinden sich israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas. Nun sind bald sechs Monate vergangen, seit am 7. Oktober Hamas-Terroristen Israel brutalst überfielen und Menschen in ihre Gewalt brachten, sie verschleppten oder ermordeten. Seitdem tobt im Gaza-Streifen ein Krieg, dessen katastrophale Ausmaße kaum noch in Worte zu fassen sind. Die Situation der Zivilisten im Gaza-Streifen ist unvorstellbar. Hunger, Tod, Hoffnungslosigkeit. Hunderttausenden fehlt es am Nötigsten. Ein täglicher, unerbittlicher Überlebenskampf. Sowohl innen- als auch außenpolitisch wächst der Druck auf die israelische Regierung. In dieser ohnehin schon äußerst angespannten Situation musste gestern Nachmittag Israel einen »unbeabsichtigten Angriff« eingestehen, der sieben Helfern der Organisation World Central Kitchen den Tod brachte. »Das passiert im Krieg«, so der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, lapidar. Die Organisation kündigt an, ihre Arbeit im Gazastreifen vorerst einzustellen. Die Proteste in Israel gegen Netanjahus Regierung werden größer und lauter. Von Tag zu Tag wächst die Sorge, dass sich der Krieg in der Region ausweiten könnte. Gestern mutmaßlich ein israelischer Luftangriff auf iranische Botschaftsgebäude in Damaskus. Die Welt vernimmt die darauffolgenden Drohungen aus dem Iran mit ernstzunehmender Sorge.

Ein kalter Frühlingstag. Ja, regelrecht ungemütlich, trotz blauen Himmel und Sonne. Abends schaffe ich es endlich, das schmale Bändchen Am Seil von Erich Hackl, das ich noch im Januar begonnen hatte, zu Ende zu lesen. Eine berührende Geschichte, einfach und klar in der Sprache erzählt. Ein literarisches Denkmal für den Menschenretter Reinhold Duschka, der in seiner Wiener Werkstatt in Mariahilf zwei Jüdinnen, Mutter und Tochter, vor den Nationalsozialisten versteckt hielt. Später, als der Werkstatthof von Bomben getroffen und ausgebrannt war, brachte er die beiden in einem Kellerverschlag eines Ladengeschäfts unter, das er für seine Arbeit anmieten konnte. Die letzten Monate des Krieges verbrachten Regina und Lucia Treister in modriger Dunkelheit. 


5. April 2024

Es wird wärmer. Das Frühjahr reckt und streckt sich. Noch stehen die hochgewachsenen Bäume kahl in den Gärten oder drüben, am Mangfalldamm. Doch der Löwenzahn sprießt schon munter in allen Ecken. Schon gibt es erste Felder von Pusteblumen! Es wird Zeit, dass ich in den Garten hinauskomme. Anfang April und die ersten, wetterbedingten Warnhinweise werden ausgegeben: Waldbrandgefahr! Es ist zu trocken, in den Gärten, in den Wäldern. Für Anfang April zu warm.


6. April 2024

Im niedersächsischen Oldenburg wurde die Synagoge Ziel eines Anschlags. Gestern, am frühen Nachmittag, haben flüchtige Täter versucht die hölzerne Eingangstür in Brand zu setzen. Abends spontane Solidaritätskundgebung mit der jüdischen Gemeinde vor der Synagoge. Unterdessen nimmt die Bedrohungslage für jüdische Einrichtungen im Land weiter zu, seit die iranischen Machthaber Israel wiederholt mit Vergeltung drohten. Auch die US-Regierung rechnet mit einem baldigen Vergeltungsschlag … Während wir hier im Frieden in das Wochenende hineingleiten, verhallen in der Ukraine die nächtlichen Luftangriffe. Raketen bei einem Doppelangriff auf Saporischschja. Wieder Angriff auf Charkiw. Krieg in der Endlosschleife.

Ich sitze am  Arbeitstisch vor dem geöffneten Fenster. Draußen turbulentes Zwitschern und Trällern. Wie soll man sich dabei auf die Arbeit konzentrieren können? Dennoch komme ich voran. Ich denke, dass ich bis spätestens Ende kommender Woche die überarbeitete Fassung ans Theater schicken kann. Ein großer Schritt. Vorfreude auf die nächste Etappe. Die einzelnen Szenen müssen nun im Detail erarbeitet, Ideen entwickelt und weitergedacht werden. Und dann beginnen auch schon in wenigen Wochen die Proben! Die Zeit eilt dahin. – Abends strömender Blütenduft durch das noch geöffnete Fenster. Als ob es schon Mai wäre … Ich arbeite und lese.


7. April 2024

Viel zu früh für einen Sonntag in der Morgendämmerung aus einem Albtraum aufgeschreckt. Herr Ödön sitzt (mal wieder) auf der Bettkante und schaut. Sein Chor der Spießer:innen geisterten mir in wirren Träumen umher. Der beginnende Tag schimmert durch die Ritzen der Jalousie. Schlaflos. »San s’ net tierisch?« Der Lieblingsausspruch von Ödön von Horváth. Ich habe ihn mir schon einmal aufgeschrieben. Jetzt entdecke ich ihn wieder in den Erinnerungen der Schauspielerin und Autorin Hertha Pauli, die griffbereit auf meinem Lesestapel liegen. Der Riss der Zeit geht durch mein Herz* erschien erstmals 1970 und wurde 2022 neu aufgelegt. Pauli und Horváth begegneten sich 1931, als seine Geschichten aus dem Wiener Wald in Berlin uraufgeführt wurden und sie darin eine kleine Rolle spielte. Im März 1938 erleben beide gemeinsam in Wien den »Anschluss Österreichs« an Nazi-Deutschland, begleitet vom lautstarken Jubel auf den Straßen und Gassen. Eindringlich beschreibt Hertha Pauli in ihren Erinnerungen die dunkeln Tage vom 11. bis zum 13. März 1938, dem Tag, an dem sie ihre Heimat fluchtartig verlassen musste. »San s’ net tierisch?« Auch an diesem Abend, am 12. März 1938, als sie noch einmal mit Freunden ein letztes Mal zusammenkamen, warf Horváth diese Frage in die Runde, gelassen und ruhig, aber nicht mehr vergnügt, wie der Kreis ihn kannte. Ja, tierisch sind s’, all die Kleinbürger:innen, die Horvath in seinen Werken, einem Panoptikum gleich, versammelte. Bis heute hält er uns mit ihnen den Spiegel vor. Ich lese mich in den Tag.

»Der Riss der Zeit geht durch mein Herz ist ein Heinrich-Heine-Zitat, das Hertha Pauli auf ihren Fluchtwegen begleitet hat. Sie ist diese Wege nicht alleine gegangen, sondern mit Freunden, deren Namen heute wie das Who’s who der deutschsprachigen Emigration klingen: Joseph Roth, Walter Mehring, Franz und Alma Werfel und vor allem Ödön von Horváth, dem sie eines der schönsten Kapitel dieses wunderbaren und lange vergessenen Erinnerungsbuches widmet.« Zsolnay Verlag

Hertha Pauli
Der Riss der Zeit geht durch mein Herz
Erinnerungen
Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-07308-1
25 EUR (D) 25,70 EUR (A)

* unbezahlte Werbung



10. April 2024


Am vergangenen Montag (8.4.) stellte das theater für niedersachsen sein Programm für die Spielzeit 2024/25 vor und präsentiert darin eine Rarität, die ich ab Ende Mai für Hildesheim inszenieren werde: Ödön von Horváths Der ewige Spießer. Nun ist es endlich offiziell und ich darf es auch hier verkünden!

Seit über einem Jahr beschäftige ich mich nun schon zusammen mit meiner Bühnen- und Kostümbildnerin Moni Gora intensivst mit dem Roman, der 1930 erstmals veröffentlicht wurde und in dem Horváth in kaleidoskopischen Szenen von einer Welt erzählt, »in der Menschlichkeit neben Profitgier, Ansehen und Erfolgswahn nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.« Was sind wir doch für Bestien, lässt Ödön von Horváth in seinem Roman den Journalisten Schmitz ausrufen. Das schonungslose Lamento wird zum hinterfragenden Leitgedanken der Inszenierung und unserer Zeit.

Hier im Blog und auf Mastodon, Bluesky, Instagram und Facebook seid ihr mit #tfnspießer dabei, wenn ich in den nächsten Monaten bis zur Premiere am 1. September 2024 versuchen werde, Euch ein wenig mehr über den horváthschen Spießer zu erzählen.


11. April 2024

Die Weltlage unverändert. Schrille Drohungen liegen in der Luft. Angespannte Diplomatie. Die Diplomat:innen dieser Welt eilen in einem fort, von Krisenherd zu Krisenherd. Schon wird der Flughafen von Teheran nicht mehr angeflogen. Iran drohe mit einem »bedeutenden Angriff« auf Israel, lässt US-Präsident Biden wissen und betont eindringlich die »unerschütterliche Unterstützung« der USA für Israel.

Und in der Ukraine tobt weiter der tägliche Überlebenskampf. 


12. April 2024

Meine Bühnenfassung von Der ewige Spießer machte sich heute Vormittag auf den Weg nach Hildesheim. Eine große Etappe des Projekts ist somit abgeschlossen. Die kommenden Wochen werden nicht minder arbeitsreich.

Angstvolles Warten in der Welt. In den letzten Tagen wiederholt Drohgebärden des iranischen Regimes gegen Israel. Die USA versichern Israel ihre Solidarität. Man stünde bei einer Bedrohung durch den Iran an der Seite Israels. »Ein direkter Angriff wird eine angemessene israelische Antwort gegen den Iran erfordern«, so der israelische Verteidigungsminister Galant. Drohungen von hüben und drüben. Und was ist mit den Geiseln, die sich immer noch in der Gewalt der Hamas-Terroristen befinden? Was wird aus der hungernden Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen?


13. April 2024

Das Auswärtige Amt in Berlin fordert deutsche Bundesbürger:innen auf, den Iran zu verlassen. Auch die österreichische Regierung ruft seine Landsleute zum Verlassen des Landes auf. Reisewarnungen werden dringlicher. Die Niederlande schließen ihre Botschaft in Teheran. Angehörige von deutschen Botschaftsmitarbeiter:innen verlassen den Iran. Die Bedrohungslage im Nahen Osten verschärft sich. Der israelische Außenminister verschiebt seine Auslandsreisen nach Österreich und Ungarn auf unbestimmte Zeit. Jordanien sperrt seinen Luftraum. Steht der prophezeite Vergeltungsschlag Irans gegen Israel kurz bevor? Iranische Revolutionsgarden entern im Golf von Oman ein Handelsschiff. US-Präsident Biden kehrt vorzeitig aus dem Wochenende in das Weiße Haus zurück, ruft sein Sicherheitsteam zusammen. Ernste Vorzeichen? Am frühen Abend veröffentlicht die israelische Regierung neue Schutzanweisungen für die Zivilbevölkerung.

Und dann passiert es. Kurz nach 22 Uhr lese ich im Netz erste Meldungen von einem Angriff des Irans auf Israel. Zwischen 200 und 300 iranische Drohnen sollen sich auf dem Weg nach Israel befinden! Die Welt hält den Atem an. Der Luftraum über Israel wird gesperrt. Offenbar wird Israel nicht nur mit Drohnen angegriffen, sondern auch mit Marschflugkörpern, die noch schneller ihr Ziel erreichen werden. Raketen auf Israel. Millimeter vom Abgrund entfernt. Ich lese von Israelis, die sich darauf gefasst machen, die nächsten Tage in Bunkern zu verbringen. Sie packen das Nötigste zusammen.


Sonntag, 14. April 2024

Dreht sich nun die Eskalationsschraube weiter? Am Morgen nach dem iranischen Angriff auf Israel ist die Sorge um einen möglichen Flächenbrand in der Region groß. Wie wird die israelische Regierung auf diesen Großangriff reagieren, den das Militär mit Hilfe seiner Verbündeten abwehren konnte? Die materiellen Schäden sind gering. Ein Beduinenmädchen in der Negev-Wüste wurde bei dem Angriff schwer verletzt; mutmaßlich durch das Herabfallen von Trümmerteilen. In den Kommentaren ist von »Muskelspielen« und «Drohung« die Rede. Die Krisenstäbe auf der Welt tagen. Zum ersten Mal hat das iranische Regime Israel direkt angegriffen. Ein sorgenvoller Tag. Erneute Drohungen aus dem Iran. „Sollte Israel Vergeltung üben, wird unsere Antwort viel größer sein, als die militärische Aktion von heute Nacht.“ Was wird werden? 


15. April 2024

Das internationale Ringen setzt sich fort. Bei einer möglichen Reaktion Israels auf den Großangriff will Israel Teheran schaden, aber keinen Krieg auslösen. Was das bedeutet, bleibt unklar. Die Absurdität des Krieges.

Ich versuche zu arbeiten. 


16. April 2024

Es braucht wieder Zeit, um in die Konzentration zurückzufinden.


17. April 2024

Der 2022 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan hat Anfang April bekanntgegeben, dass er sich nun auch als Soldat im Kampf gegen die russischen Invasoren beteiligen möchte. Er hat sich zum Kriegsdienst an die Front gemeldet. Unermüdlich hat er sich in den vergangenen Jahren für sein Land eingesetzt, hat bei seinen Lesungen und Konzerten Geld zur Unterstützung gesammelt. Erst gestern habe ich von seiner Entscheidung gehört, dass er nun auch als Soldat sein Land verteidigen wird. Die Meldung versetzte mir einen Stich. Wie viele Kulturschaffende der Ukraine sind inzwischen in diesem Krieg getötet worden? Ich denke an Maksym Krywzow, den jungen Lyriker, der noch 2023 den Band Gedichte aus dem Schützenloch veröffentlichte, bevor er am 7. Januar 2024 mit nur 33 Jahren in der Region Charkiw fiel. Ich denke an die Schriftstellerin Victoria Amelina, die bei einem Raketenangriff auf Kramatorsk ums Leben kam.

Die Situation in Charkiw, der Heimatstadt von Serhij Zhadan, hat sich in den vergangenen Wochen drastisch verändert. Die Stadt, keine vierzig Kilometer zur russischen Grenze, sieht sich wieder täglich massiven Angriffen der russischen Aggressoren ausgesetzt. Überhaupt wächst die Gefahr, dass das russische Militär immer mehr die Oberhand in seinem erbarmungslosen Angriffskrieg zurückerlangt. Seit Monaten kämpfen die ukrainischen Einheiten gegen den Mangel an Munition. Die Verzweiflung wird größer. So auch heute. Ein russischer Angriff auf Tschernihiw, eine der ältesten und bedeutendsten Städte der Ukraine. Drei Raketen schlagen in das Stadtzentrum ein. Dabei sterben mindestens 18 Menschen, es gibt mehr als 60 Verletzte und Vermisste. Ein furchtbarer Morgen. Ich sehe ein Video. Sehe wie Menschen, die aus einem Bus steigen, von den Angriffen überrascht, sich zu Boden werfen. Im Hintergrund schlägt wiederholt eine Rakete ein. Eine Rauchwolke steigt auf. Feuerschein. Ich muss das Handy weglegen. Abends wieder flehentliche Appelle des ukrainischen Präsidenten an die Weltgemeinschaft. Die Worte sind genug gewechselt. Es müssen endlich Taten folgen. 


18. April 2024

Eisige Winde peifen ums Haus, begleitet von Graupelschauern und Regen, ab und an reißen die Wolken auseinander und die Sonne blitzt durch. Nichts ungewöhnliches im April. Das junge Grün gibt sich tapfer.

»Wir alle taten so, als wäre uns nicht kalt, als hätten wir keine Angst, als wären wir nicht einsam, als würde uns die nahe und überwältigende Gegenwart des Todes nichts ausmachen. Es war noch nicht lange her, da war das Leben zerbrochen, war die Zeit zerbrochen, hatte sich das Gefühl des Atmens verändert, sein Rhythmus und seine Regelmäßigkeit. Nun standen wir also unter dem großen hellen Himmel – « (Serhij Zhadan, »Ich lösche am Ende das Licht«, Erzählung, veröffentlicht am 16. April 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)

Ich lege die Zeitungsseite mit der Erzählung Ich lösche am Ende das Lichter in mein Journal. Ein Text der nachhallt, der mich beschäftigt. Der Kämpfer der ukrainischen Literatur, Serhij Zhadan, hat ihn vor seinem Gang an die Front geschrieben.


19. April 2024

Die Geschehnisse unserer Zeit haben sich wie Perfmafrost über uns gelegt. Die Kälte kriecht in uns hinein, setzt sich fest, lähmt. Eine große Dunkelheit umfängt die Welt, eine Düsternis. Wie finster kann es noch werden? Die Weltlage – steil schief, prekär. Immer wieder, so scheint es, ein paar Millimeter vom Abgrund entfernt. Und wir tanzen weiter! Immer weiter. Tänzeln am Abgrund entlang, immerzu. Schließlich müssen wir in Bewegung bleiben, der Kälte entfliehen.

Am frühen Morgen ist die Rede von Explosionen nahe der iranischen Stadt Isfahan. Ein mutmaßlicher Luftschlag Israels, als Vergeltung für Teherans Drohnen- und Raketenbeschuss am vergangenen Wochenende. Der Chor ranghoher Diplomat:innen beschwört einmal mehr das Iraner Regime als auch Israel, fordert Deeskalation und Zurückhaltung.

In der Ukraine wird das seit Monaten anhaltende Flehen und Bitten um Munition und Luftverteidigungssysteme von Tag zu Tag verzweifelter. Immer öfter taucht die Frage in den Medien auf, was, wenn die Ukraine verliert? Was, wenn das russische Terrorregime die Oberhand erringt? Nicht auszudenken. Massive russische Raketenangriffe auf das ganze Land bestimmen die Tage und Nächte der Ukrainer:innen. Auch heute wieder. Tote und Verletzte. Sorgenvolle Blicke richten sich in die USA, wo morgen im Repräsentantenhaus über ein Milliarden-Hilfspaket für die Ukraine abgestimmt werden soll. Die Ukraine – zwischen Hoffen und Bangen.

Während ich meinen Gedanken nachhänge und in mein Journal schreibe, um in den Tag zu finden, tänzeln draußen vor dem Fenster munter Pusteblumensamen im frühlingskalten Wind vorbei. Graue Wolken treiben über dem Himmel hinweg. Die Gipfeln und Abhänge der nahen Berge sind tief verschneit. Über allen Gipfeln ist Ruh. Ich schlage das Konzeptbuch auf. Das Arbeiten geht weiter. Der Tag zieht seine Bahnen, auch heute. 


20. April 2024

Der Blick nach draußen wenig verheißungsvoll. Typisches Aprilwetter, das sich dennoch oder deshalb wunderbar zum Arbeiten eignet. Hellgrün leuchtende Tupfer vor den dunklen Bergen, die von Zeit zu Zeit im Graugrau der Wolken verschwinden und dann ebenso plötzlich wieder auftauchen. Graupelschauer ziehen durch den Samstag, den ich an meinem Arbeitstisch am Fenster verbringe. Von Zeit zu Zeit prasseln kleine Eiskörner auf das Fensterbrett. Für die Nacht sind Schneefälle vorhergesagt. Es ist kalt. Ein Fischreiher gleitet still über die Mangfall. Familie Star hat Nachwuchs. Emsiges rein und raus. Die gefräßigen Mäuler mögen gestopft werden. Nachmittags, pünktlich zur gleichen Stunde, schleicht wie jeden Tag auf ihrer Runde die Samtpfotige vorbei. Schielt nach oben, stellt sich auf ihre Vorderpfoten. War da was?

Trotz des frühlingserwachenden Spektakels da draußen, denke ich den Spießer weiter. Bereite die nächsten Wochen vor, die ich bis zu den Proben mit den einzelnen Szenen und Rollen verbringen werde. Zum Feierabend Oper aus dem Radio. Ganz linear. Ö1, auf dem Programm: Mozarts Idomeneo. Lange nicht mehr gehört. Zum Nachhören hier.

Kriegsheimkehrer, Geflüchtete und Gestrandete. Umherirrende. 
Zu jeder Zeit.


Sonntag, 21. April 2024

Euch alle fühle ich in meinem Herzen,
Furien der grausamen Hölle;
entfernt von so großem Leid
sind Liebe, Gnade, Mitleid.
(Arie Elettra, aus Mozarts „Idomeneo“, 1. Akt)

Live-Mitschnitt der Bayerischen Staatsoper vom 24.7.2021 aus dem Prinzregententheater München mit Hanna-Elisabeth Müller als Elettra in der Inszenierung von Antú Romero Nunes


Idomeneo geistert noch etwas durch die Theaterwelten.

Blättere in einem Programmheft der Bayerischen Staatsoper aus dem Jahre 1996. Damals inszenierte Andreas Homoki die Geschichte vom Kriegsheimkehrer Idomeneo. Beim Durchsehen entdecke ich einen Satz von Georg Picht, aus seiner Mut zur Utopie, den ich kurz festhalte: »Die Frage nach der Zukunft des Menschen … fragt nach der Zukunft der Menschlichkeit des Menschen.«

Das Menschsein nicht verlieren, in diesen Zeiten. Heute und morgen.


22. April 2024

Heute beginnt auf der Welt mit dem Sederabend das einwöchige Pessachfest. Das Fest der Freiheit. Viele Stühle bleiben leer. Hoffen und Bangen in Israel.


23. April 2024

Weiterhin winterliche Aussichten. Den ganzen Tag über eine weiße Wand vor den Bergen. Auch heute, von Zeit zu Zeit, Graupelschauer. Sitze den Tag über konzentriert am Arbeitstisch. Der weiße Flieder, den ich mir gestern aus dem Garten reingeholt habe und der nun als kleines Sträußchen auf dem Fensterbrett steht, verströmt seinen samtigen Frühlingsduft. Der Mai ist nicht mehr weit.

Auf die Nachrichten möchte ich gar nicht schauen. (Ja, an manchen Tagen rauben sie einem zu viel der wertvollen Energie.) In dieser Nacht wieder Odessa. Und in Rafah wird eine militärische Operation durch das israelische Militär immer wahrscheinlicher. Offenbar hat man schon mit der Evakuierung der dort vor Ort eingepferchten Menschen begonnen? Und die Hamas schießt weiter Raketen auf Israel. Tagtäglich! Wieder protestieren auch am Sederabend hunderte von Angehörigen für eine sofortige Freilassung aller Geiseln. (Wie viele der Geiseln leben noch?) Und hier? Mehrere Fälle von Spionageaffären. Mutmaßliche Spitzel, angeheuert von Autokratien und Diktaturen.


26. April 2024

Mittags wird bekannt, dass der Münchner Regisseur, Produzent und Autor Michael Verhoeven („Die Weiße Rose“ oder „Let’s go“) am 22. April verstorben ist.


30. April 2024

Der Mai schickt frühlingshafte, fast schon frühsommerliche Temperaturen voraus. Es gibt viel zu tun. Die Projekte reihen sich aneinander. Die Weltlage wie eh und je, unverändert. Krieg und Hass fressen sich weiter.

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