Nur nicht die Hoffnung sinken lassen

Tagesschnipsel Januar 2024


Montag, 1. Januar 2024
Neujahr

»Möge es ein friedensstiftendes neues Jahr werden«, denke ich, wenig hoffnungsfroh, als draußen, kurz vor Mitternacht, das Getöse und Gewumme anschwillt zu einem dröhnenden Raunen. Sprühende Funken prasseln aus dem Nachthimmel. Drinnen trällern champagnerlaunig Diana Damrau und Georg Nigl als gewitzt-tollkühne Eisensteins, in einer von Operettenkaiser Barrie Kosky erdachten neuen Fledermaus-Inszenierung. ARTE überträgt den Silvesterklassiker aus der Bayerischen Staatsoper, aufgefrischt, in erwartbarer Kosky-Manier und mit viel Queerness entstaubt, zeitversetzt. Der Silvesterverweigerer in mir gibt sich geschlagen. Amüs’ment! Amüs’ment! Vor mir dreht sich Alt Wien im schmissigen Walzertakt, aus Sein wird Schein, das quietschvergnügte Spiel der Fledermaus nimmt seinen Lauf. Champagner, für alle! Mach uns vergessen! Prosit Neujahr, tönt es in der Welt. Ein wenig übernächtig starte ich in den Neujahrsmorgen und lasse das neue Jahr müßig beginnen.

Gedanken am Neujahrstag. Die Welt rumort. In Japan bebte die Erde. In Deutschland müssen sich mancherorts die Menschen dem Hochwasser entgegenstellen. Wohl nur kurz, von der Menschheit unbemerkt, für einen Bruchteil eines Augenblicks, wohnte diesem Jahresanfang ein Zauber inne. Zu laut das Wüten ringsum. Auch in dieser Nacht bedrohten russische Raketen und Drohnen die Existenz der Ukrainerinnen und Ukrainer. Auch in dieser Nacht war im Gazastreifen die Verzweiflung unermesslich groß und auch in dieser Nacht lähmte Sorge und Angst die Angehörigen der Hamas-Geiseln. Auf der Welt rumorte und tobte es unerbittlich weiter, auch in dieser Nacht des Neuanfangs. Warum sollte sich auch an einem Neujahrstag alles in Wohlgefallen auflösen? All die Katastrophen, Kriege und Brandherde dieser Welt verschwinden? Illusionistisches Wunschdenken. Jahr für Jahr nimmt die Menschheit das Ungemach dieser Welt wie eine Hypothek mit ins neue Jahr, die es gilt, abzutragen, zum Scheitern verurteilt. Ob der Mensch es jemals schaffen wird, hypothekenfrei ein neues Jahr zu beginnen? Der realistische Spötter in mir lacht schallend. Ja, der Neujahrstag ist auch Tag der Sentimentalitäten.

Und dennoch: »Nur nicht die Hoffnung sinken lassen«! 

Bei Ödön von Horváth, wie kann es anders sein, finde ich die Losung für die vor uns liegenden Monate, die uns sicherlich mit einem immerwährenden Auf und Ab erwarten.


2. bis 4. Januar 2024

Immer noch dieses »Zwischen den Jahren«. Eine Parallelwelt zwischen dem Hier und der Welt da draußen. Das Wetter gibt sich wechselwütig, gar aprillaunig. Die Beschaulichkeit dieser Tage macht langsam aber spürbar Platz für ein schnelleres Tempo. Von andante auf allegro, oder, mit Blick auf das neue Jahr, in ein neugieriges allegretto. Ich mag diesen Übergang. Langsam munter werdend, blicke ich entspannt und mit Zuversicht, auf das, was kommen wird. Ödön von von Horváth ist mein ständiger Begleiter in diesen Tagen und die Aussicht, dass ich in den ersten Monaten des neuen Jahres noch mehr Zeit mit ihm verbringen werde, erfüllt mich mit immenser Vorfreude und einer sich steigernden Lust am Tun. Ich lese sehr viel und jeden Tag gelingt es mir besser, nach der unerwünschten Pause im Dezember, in die Arbeit zurückzufinden. 

5. Januar 2024

Ein unheimliches Crescendo von Hass und Gewalt hat sich gestern Abend am Fähranleger im schleswig-holsteinischen Schüttsiel Bahn gebrochen. Viel hat nicht gefehlt und ein aufgehetzter, hasserfüllter Mob hätte die Fähre gestürmt, mit der Wirtschaftsminister Robert Habeck und seine Familie aus dem Urlaub zurückkehrte. Waren es am frühen Morgen in den Meldungen noch wütende Landwirte, die ihren Unmut über die Subventionskürzungen zum Ausdruck brachten, verdichtete sich im Laufe des Tages der Verdacht, dass offenbar Rechtsextreme den gewaltbereiten Mob in einschlägigen Telegram-Gruppen mit mobilisierten. (Die Volksverpetzer berichteten ausführlichst.) Großes Entsetzen in den demokratischen Lagern. Doch gerade diejenigen, die seit Monaten lautstark, im Ton populistisch, die Bundesregierung kritisierend vor sich her treiben, schweigen verdächtig still. Ist es der Schock über das Geschehene, der ihnen die Stimme verschlagen hat oder dämmert die Erkenntnis, dass ihr unverantwortliches Agieren immer mehr zu einer Gefahr innerhalb unserer Gesellschaft wird? Weder noch. Wie so oft wird das Aufpeitschen wohl nach kurzem Stillhalten fortgesetzt werden. Die Intervalle werden immer kürzer. Unsere, noch immer existierende, demokratische Mehrheitsgesellschaft, muss verdammt aufpassen. Wenn wir jetzt nicht entschieden den rechten Agitatoren, den Demokratiefeinden in unserem Land, entgegentreten, werden wir bei den anstehenden Europa- und Landtagswahlen ein – sprichwörtlich – »blaues Wunder« erleben, dass unserem Land und Europa verheerenden Schaden zufügen wird. Ja, dieses Jahr wird uns fordern. Vielleicht gar mehr, als die Vorangegangenen.

6. Januar 2024
Heilige Drei Könige

Mit den drei Königen wurde es noch einmal feiertäglich, bevor am Montag der arbeitsreichere Alltag wieder Einzug hält. Ich schmökere in einem schmalen Bändchen der Insel-Bücherei, das letzte Aufzeichnungen und Aufrufe von Stefan Zweig versammelt, der stillen Eminenz in meinen Theaterwelten. Gerade rund um den Jahreswechsel gelesen, kann die Lektüre von Die Kunst, ohne Sorgen zu leben eine wohltuende wie hoffnungsfördernde sein. Bieten doch die Tage zwischen den Jahren genug Zeit und Raum für das Überdenken mancher Begebenheit. Ich halte inne und gönne mir jeden Tag einen Text aus der Sammlung, die zukünftig in keiner literarischen Hausapotheke fehlen sollte. Meine persönliche Auszeit am Schreibtisch. So erzählt Stefan Zweig in der titelgebenden Miniatur von einem einmaligen Menschen, der sich durch innere Souveränität der stärksten Macht dieser Erde, dem Geld, entziehen konnte. Und wie er unter Menschen zu leben vermochte, ohne einen einzigen Feind zu haben. Darauf schildert er in Nur Mut! aufrichtig und ehrlich, wie er es als Schüler, zusammen mit anderen, versäumt hat, einem Mitschüler gegenüber, im rechten Augenblick, eine Geste der aufrichtigen Anteilnahme zu zeigen. Aus diesem »Mangel an Mut, der uns so oft davon abhält, das rechte Wort zu sagen, wenn es am nötigsten ist« hat Stefan Zweig für sein weiteres Leben seine Konsequenzen gezogen und bestärkt uns eindringlich, »dass man niemals zögern sollte, dem ersten Impuls zur Hilfeleistung zu folgen, denn ein Wort oder eine Tat aus Mitgefühl hat nur wirklich Wert im Augenblick der höchsten Not.« Ein kleiner Text, der in seiner Brisanz bis in unsere Gegenwart hinein wirkt. Ein beschwörendes Plädoyer für mehr Mut und mehr Zivilcourage. Kommen wir seiner Aufforderung nach, das »große Schweigen« zu durchbrechen. 

»Zu den bewegendsten und bisher unzugänglichen Schriften Stefan Zweigs zählen diese in seinen letzten beiden Lebensjahren entstandenen Schilderungen. Einmal mehr zeigen sie das ganze Spektrum seines Talents, persönliche Erfahrungen wie auch historische Begebenheiten so anschaulich zu vergegenwärtigen, dass sie der Leser wie eigene Erlebnisse wiederzuerkennen meint.«Insel Verlag

Stefan Zweig
Die Kunst, ohne Sorgen zu leben
Letzte Aufzeichnungen und Aufrufe
Herausgegeben von Klaus Gräbner und Volker Michels
Insel-Bücherei Nr. 1524
ISBN 978-3-458-19524-5
14 EUR


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