Tagesschnipsel Dezember 2023

Leer, zerfleddert und abgeräumt. Ein Christbaum fristet an einer Bahnstation in Erlangen noch im April 2023 sein Dasein.
24. Dezember bis 26. Dezember 2023
Heiligabend und Weihnachten
Ob er immer noch dort liegt, regungslos auf sein endgültiges Ende harrend? Wohl kaum. Es wird sich irgendwer die Mühe gemacht haben, ihn wegzuschaffen. Fort, gezerrt auf irgendeine Kompostierungsanlage. Endstation für vergessene, liegen gebliebene Weihnachtsmacher. Viele vor ihm sind diesen Weg gegangen, viele nach ihm werden ihn ebenfalls gehen, wenn spätestens alljährlich zum Dreikönigstag die grün-duftenden Gäste wieder aus unseren Wohnungen weichen müssen. Da stehen sie dann, die Gefledderten, ausgedörrt und zerzaust in dunkle Ecken gelehnt, abgestellt und zurückgelassen. Die einst so Strahlenden, in ihrem Antlitz bewundert, vertrocknen hässlich braun, bis in ihre Nadelspitzen hinein, ignoriert von den Vorbeieilenden. Längst ist in deren Erinnerungen der letzte Heiligabend verblaßt, die Weihnachtszeit dem Vorfrühling gewichen. Sie würdigen den Weihnachtsmachern keine ihrer Blicke mehr.
Ich erinnere mich an das Märchen vom Tannenbaum von Hans Christian Andersen, als ich das Bild von dem achtlos abgelegten Christbaum für meine Dezember-Tagesschnipsel in meiner Sammlung entdecke. Das Foto knipste ich auf einer meiner Theaterreisen im April, auf einem Bahnsteig in Erlangen. Der dänische Erzähler lässt am Ende den Knecht auftreten, um die stolze Tanne in kleine Stücke zu schlagen. „Vorbei, vorbei!“, sagte der arme Baum. „Hätte ich mich doch gefreut, als ich noch konnte! Vorbei, vorbei!“ Der stattlich gewachsene Tannenbaum beginnt erst mit seinem brutalen Ende zu begreifen, dass er nie mit dem zufrieden war, das er in seinem kurzen Leben besessen hatte oder erleben durfte. Für mich eine der schönsten Erzählungen von Hans Christian Andersen.
Ein weiteres, forderndes Jahr neigt sich mit den Feiertagen seinem Ende entgegen. Anstrengend war es, höre ich uns allseits seufzen. Ja, das war es. Wieder ein Jahr in Folge, das uns mit seinen Krisen und Kriegen in Atem gehalten und so manchen überfordert hat. Umso mehr freue ich mich auf die Tage zwischen den Jahren, um Luft zu holen, für das was kommt, aber auch um das Gewesene Auszuatmen. Und ja, auch dankbar zu sein. Wie froh und glücklich können wir uns schätzen, den Heiligabend in Frieden begehen zu können! Es mag wie eine Phrase klingen, aber es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, denn keine tausend Kilometer erleben die Ukrainer*innen ihre zweite Kriegsweihnacht, mit Raketen und Drohnengeschwader. Dieser Krieg ist viel zu nah, um ihn zu ignorieren, um ihn vergessen zu können. Ich kann es nicht. Auch kann ich den Terror gegen Israel, den Krieg im Gazastreifen nicht einfach beiseite schieben, die unvorstellbaren Gräueltaten der Hamas vergessen machen. Zu präsent sind die täglichen Meldungen und Nachrichten, die Geschichten der Menschen, hüben wie drüben. Wie soll uns da feierlich ums Herz werden? Und dennoch ist es gerade an diesen besonderen Tagen am Jahresende wichtig, das Leben, trotz aller Widrigkeiten, zu feiern. Sich darauf zu besinnen, dass Vieles eben nicht selbstverständlich ist. Genügsam sein, für das, was ist.
»Grübl nicht, schau die Sterne – die werden noch droben hängen, wenn wir drunter liegen«, lässt Ödön von Horvath seine Marianne in den Geschichten aus dem Wiener Wald lapidar feststellen. Ein schönes Bild, das mich die letzten Tage begleitet hat, als ich grübelnd im Bett lag, niedergestreckt vom fiesen Virus-Möpp, der nach drei Jahren doch noch um die Ecke kam und sich wohl im Reisegepäck aus Hildesheim versteckte. Wollte ich doch gleich nach meiner Rückkehr wieder an meinem Schreibtisch sitzen, wurde ich ausgebremst. Die Adventszeit im Dämmerzustand verbracht. Nichts ging mehr. Ab und an wagte ich einen Blick nach draußen in die Welt, um den Schneebergen vom Monatsanfang dabei zuzusehen, wie sie langsam dahinschmolzen. Der innere Horváth saß derweil ungeduldig, mürrisch wartend auf der Bettkante. Und plötzlich war dann Weihnachten! Aus Schnee- und Viruswirren in die Feiertage katapultiert. Gerade noch rechtzeitig wurde der Weihnachtsstern am Fenster der Theaterwelten installiert. Mehr Weihnachten ist in diesem Jahr nicht. Und doch, die Lebensgeister kehren merklich zurück.
Grübl nicht, schau die Sterne!
Frohe Tage!
29. Dezember 2023
Zwischen den Jahren sitzen. Zwischen den Welten sitzen.
Während sich hierzulande die Maßlosen mit Böllern und Raketen für den Jahreswechsel rüsten, erlebte die Ukraine heute Morgen die schwersten Luftangriffe seit Beginn der russischen Invasion. 158 Raketen und Drohnen wurden von Russland auf das Nachbarland abgefeuert. Weit mehr als 30 Menschen wurden landesweit getötet, über 150 Menschen verletzt. Eine der russischen Raketen durchquerte offenbar auch den polnischen Luftraum. Brutal demonstriert Russland einmal mehr sein erklärtes Ziel, die Ukraine zu vernichten – die ukrainische Identität auszulöschen. Und die umstehende Welt? Sie taumelt bedrohlich. Offensichtlich überdrüssig von Krieg und Krisen, feilschen die politischen Akteure der Regierungen zunehmend um die militärische Unterstützung für die Ukraine. Ja, »Krieg auszuhalten ist schwer«, so der ARD-Korrespondent Vassili Golod auf Bluesky. »Für Soldatinnen, Soldaten und ihre Familien. Für Ukrainerinnen und Ukrainer, die in russisch besetzten Gebieten terrorisiert werden. Für alle, die ihre Liebsten im Krieg verloren haben. Leider hat die Ukraine keine andere Wahl, als sich zu verteidigen.« Die Blicke richten sich bang auf 2024.
31. Dezember 2023
Silvester
Silvesterabend. Draußen noch verhaltenes böllern und knallen. Ein leises Zischen, entferntes Rattern einer Böllerbatterie. Vereinzelt pfeift vor dem Fenster eine Rakete aus den Nachbarsgärten in den Nachthimmel, explodiert und knisternd fallen sogleich bunte Funken herab. Stille. Fast scheint es, als möchte sich dieses unruhige und zwiespältige Jahr auf leisen Sohlen aus dem Staub machen. Bitte, kein Aufsehen! „Lassen wir es gut sein“, seufzen wir gemeinsam im Einklang der Erkenntnis. Die Vorangegangenen waren nicht minder fordernd. Pandemie, Krieg, Klima und eine sich im Umbruch befindende Welt. Das vor uns liegende neue Jahr wird uns nicht weniger in Atem halten. Es wird uns einiges abverlangen, so viel sei gewiss.
»Du musst Dich ganz Deinen Träumen vertrauen«, versichert Stefan Zweig seinen Leser*innen im Gedicht Träume. Ich hab diesen Satz als Gedanken 2023 vorangestellt. Jetzt, in den letzten Stunden des Jahres, blicke ich zurück auf die vorbeigezogenen Monate und darf feststellen, dass Zweig recht behalten hat. Gestatten wir uns zu träumen! Gerade in diesen, unseren Zeiten. Es hat sich vieles in diesem Jahr ereignet, ja, auch Positives, was ich nicht zu träumen wagte, im Kleinen wie im Großen. Das Jahr war reich an neuen Begegnungen und so manche neue Tür hat sich geöffnet. Ich bin dankbar für jede einzelne. Wieder am Theater angekommen, freue ich mich über zwei neue Inszenierungen im kommenden Jahr, die mich zugleich auch mit Demut erfüllen. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass ich nach schwierigen Jahren wieder ans Theater zurückkehren werde. Und so blicke ich erwartungsvoll und auch mit Vorfreude auf das nun bald beginnende neue Jahr.
Draußen wird es lauter. Das Getöse nimmt seinen Lauf.