„Ich freue mich über meine Gedanken, selbst wenn sie Wüsten entdecken.“

Tagesschnipsel November 2023


„Ich freue mich über meine Gedanken,
selbst wenn sie Wüsten entdecken.“

(Ödön von Horváth)


1. November 2023
Allerheiligentag

Der Oktober hat goldene Farbenspiele zurückgelassen. Das macht es dem November leichter. Das Grau wird ohnehin nicht lange auf sich warten lassen. Ich sitze an meinem Arbeitstisch und schaue hinaus, in die golden schimmernde Welt. Die Berge sind noch näher als sonst. Ein arbeitsreicher Monat geht an den Start. Ödön & Co. warten schon. Ich sortiere mich. In den letzten Monaten ist das Blog vernachlässigt worden. Das Leben grätschte dazwischen. Ließ manches Geplante hinten anstehen. Nun denn! Das Blog bedarf einer kleinen Auffrischung. Auch möchte ich wieder an meine Tagesschnipsel anknüpfen. Genau vor einem Jahr habe ich damit begonnen, im Blog Alltägliches, Gedanken und Skizzen, aus dem Arbeitsjournal Ausgeschnittenes, zu sammeln. Überhaupt empfiehlt sich mein regelmäßiges Schreiben der Theaterwelten als stützende Routine, gerade in diesen Wirren der Zeit, wenn die Welt einmal mehr zum Schauplatz der Entmenschlichung mutiert. Ich setze meine Arbeit mit Ödön von Horváth fort. 

3. November 2023

Der November hält Einzug. Gestern erste kräftige Regenschauer, die von Windböen begleitet wurden. Auch heute gibt sich die Welt draußen vor meinem Arbeitszimmer novembrig. Die Berge schimmern Dunkelbau durch den Nebelvorhang, der sich am frühen Morgen über sie gelegt hat. Drüben im Salzburger Land der erste Schnee bis in die Täler. Heute verweile ich nur kurz an meinem Arbeitstisch, denn es geht zur Motivsuche für Horváth und Recherche nach München. Schnell ist der Koffer gepackt, das Nötigste für das Wochenende zusammengerafft.

Blaue Stunde in München. Ein ausgedehnter Spaziergang durch die Altstadt in Richtung Maxvorstadt, mit dem Schellling-Salon als Ziel. Obwohl ich viele Jahre in der Stadt lebte, kann ich mich nicht erinnern, einmal in dieser, in die horváthsche Literatur eingegangenen Gaststätte gewesen zu sein. Es wurde also Zeit, dem Schelling-Salon, der Kultgaststätte, einen ersten Besuch abzustatten. An welchem Tisch Ödön von Horváth wohl Platz genommen hat? Im Salon ist die Zeit stehen geblieben. Der große Gastraum atmet charmant das Gestern, ohne in die Jahre gekommen zu sein. Mit seinen zahlreichen Billardtischen erinnert der Salon tatsächlich an ein altes Wiener Kaffeehaus. Die Tische drum herum sind kurz vor sieben Uhr alle dicht besetzt. Manche der Gäste sind in ihr Schachspiel vertieft, während andere lebhaft miteinander diskutieren. Angenehmes Stimmengewirr, ein Lachen und Scherzen. Und plötzlich sehe ich ihn, hinten im Eck sitzend, beobachtend und notierend. Ich will ihn nicht stören. Was er wohl schreibt? Ich bestelle Wiener Rostbraten mit Bratkartoffeln. 

Zum Entdecken: Schelling-Salon, Schellingstraße 54, 80799 München


München zur Blauen Stunde. Links in der Dämmerung die Kardinal-Faulhaber-Straße, an deren Ende sich die beiden Türme der Frauenkirche erheben und rechts die Kreuzung Schelling- Barer Straße mit dem Eckhaus, in dem sich seit 1872 das berühmte Café Schelling-Salon befindet.


4. November 2023

»Sie lachte und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wollte, er habe so lange nicht mehr diskutiert, denn er kenne hier nur seine Wirtin und das sei ein pedantisches Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte uns sagte, er freue sich sehr, dass er sie nun kennen gelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstraße, dann die Augustenstraße entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld.«
Ödön von Horváth, Sechsunddreißig Stunden

München im Untergrund.


Münchner Ansichten im Detail . Links ein Ausschnitt des U-Bahnsteigs Marienplatz mit seinen orangefarbenen Wandfliesen. In der Mitte Schriftzug der U-Bahnhaltestelle Oberwiesenfeld. Rechts die Wandgestaltung der U-Bahnstation Schwanthalerhöhe. Zwei Spaziergänger mit Dackel.

5. November 2023

Die Sonnenstrahlen lockten einen zeitig raus in den Sonntagvormittag. Vom Rosenheimer Platz aus Richtung Gasteig, dem Rosenheimer Berg hinunter, ging es durch herbstfarbige Alleen der Zeppelinstraße an der Isar entlang. Von Haidhausen hinüber in die Au. Münchner Vierteln, die man einfach mit Ödön von Horváth in Verbindung bringen muss, wenn einem seine Erzählungen und Dramen im Kopf umhergeistern. Nicht zu vergessen, Giesing, dem Viertel der 1860er, mit seinen versteckten Häuserln in den hinteren Gassen, weit genug weg, vom Rauschen und Lärmen der Tegernseer Landstraße. Und auch wenn diese alten Münchner Vorstädte in ihrer Ärmlichkeit der späten 20er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht mehr viel mit den heutigen Vierteln gemein haben, kann man sich dennoch gut vorstellen, wie dort auf der Corneliusbrücke die Karoline mit ihrem Kasimir flaniert oder drüben, in einer der lumpigen Bierbeiseln die Elisabeth sitzt und vergeblich wartet, auf Alfons, ihrem Schupo. Und, steht dort am Eck nicht der Sladek? Der Harry Priegler aus den Sechsunddreißig Stunden unternimmt gerade eine letzte Sonntagsfahrt mit seinem abgewetzten Cabrio, hinaus aus der Stadt, nach Starnberg. Irgendeine Anna sitzt auch heute neben ihm, auf dem Beifahrersitz. Gerade stehen sie an der roten Ampel, an der Kreuzung Eduard-Schmid-Straße. Die Anna blinzelt in die Novembersonne. 


An einem Sonntagvormittag auf der Zeppelinstraße an der Isar entlang. Auf der anderen Uferseite eine Häuserzeile und im Rückblick das Patentamt und vor uns die Maximilianskirche.


17. November 2023

Letzte, goldene Lichtblicke in grauen Welten.

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